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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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Tingeltangel-Witz.«
    »Intoleranz ist dafür verantwortlich, dass wir uns in dieser Lage befinden, Mr. Bullock«, tadelte ihn Miss Woolf milde. Seit Mr. Palmers Tod waren sie alle – sogar Miss Woolf – leicht reizbar. Es wäre besser, wenn sie sich ihren Unmut für Friedenszeiten aufsparten, dachte Ursula. Es lag natürlich nicht nur an Mr. Palmers Tod, sondern auch am Schlafmangel und an den unerbittlichen nächtlichen Angriffen. Wie lange konnten die Deutschen das durchhalten? Für alle Zeiten?
    »Ach, ich weiß nicht«, sagte Miss Woolf leise zu ihr, als sie Tee kochte, »es ist auch dieses Gefühl, dass alles schmutzig ist, als würde man nie wieder sauber, als würde das arme alte London nie wieder sauber. Alles ist so fürchterlich schäbig, verstehen Sie?«
    Deshalb war es eine Erleichterung, dass ihr kleines improvisiertes Konzert so gutmütig verlief, alle waren offenbar wieder besser gelaunt.
    Mr. Armitage ließ auf seinen Figaro ohne Begleitung, aber voller Leidenschaft eine Darbietung von »O mio babbino caro« folgen (»Wie vielseitig er ist«, sagte Miss Woolf, »ich dachte immer, das wäre eine Arie für Frauen«), nach der sie begeistert applaudierten. Dann sagte Herr Zimmermann, ihr Flüchtling, dass es eine Ehre für ihn wäre, wenn er etwas für sie spielen dürfte.
    »Und wirst du danach strippen, Liebling?«, fragte Mr. Bullock Stella, die »Wenn du möchtest« antwortete und Ursula komplizenhaft zuzwinkerte. (»Das sieht mir ähnlich, dass ich mal wieder an einen Haufen aufmüpfiger Frauen geraten bin«, beschwerte sich Mr. Bullock. Des Öfteren.)
    Miss Woolf sagte besorgt: »Haben Sie denn Ihre Geige dabei?«, zu Herrn Zimmermann. »Ist sie hier sicher? « Nie zuvor hatte er sein Instrument mitgebracht. Es war sehr kostbar, behauptete Miss Woolf, nicht nur in finanzieller Hinsicht, da er seine gesamte Familie in Deutschland zurückgelassen hatte und die Geige alles war, was von seinem früheren Leben übrig geblieben war. Miss Woolf hatte erzählt, dass sie mit Herrn Zimmermann »spätabends einen erschütternden Schwatz« über die Lage in Deutschland gehalten hätte. »Es ist schrecklich dort drüben.«
    »Ich weiß«, sagte Ursula.
    »Ja?«, sagte Miss Woolf interessiert. »Haben Sie Freunde dort?«
    »Nein«, sagte Ursula, »ich kenne niemanden. Aber manche Dinge weiß man einfach, oder?«
    Herr Zimmermann holte seine Geige heraus und sagte: »Sie müssen entschuldigen, ich bin kein Sologeiger«, und fügte dann hinzu, als wollte er um Nachsicht bitten: »Bach. Sonate in g-Moll.«
    »Ist es nicht komisch«, flüsterte Miss Woolf Ursula ins Ohr, »wie viel deutsche Musik wir hören? Große Schönheit übersteigt alles. Vielleicht wird sie nach dem Krieg auch alles heilen. Denken Sie nur an Beethovens Neunte – Alle Menschen werden Brüder. «
    Ursula antwortete nicht, da Herr Zimmermann den Bogen erhoben hatte und alle ehrfürchtig schwiegen, als säßen sie in einem Konzertsaal und nicht in ihrem Posten. Die Stille war zum einen der Qualität des Vortrags geschuldet (»Sublim«, urteilte Miss Woolf später. »Wirklich wunderschön«, sagte Stella), zum anderen dem Respekt vor Herrn Zimmermanns Flüchtlingsstatus. Aber die Musik hatte auch etwas so Sparsames, dass viel Raum blieb, um eigenen Gedanken nachzuhängen. Ursulas Gedanken schweiften zu Hughs Tod oder vielmehr sein Nicht-mehr-Dasein. Er war erst seit zwei Wochen tot, und sie rechnete noch immer damit, ihn wiederzusehen. Es waren Gedanken, die sie sich für die Zukunft aufgehoben hatte, und jetzt war die Zukunft auf einmal da. Sie war erleichtert, dass sie nicht weinen musste, doch stattdessen versank sie in tiefer Melancholie. Als spürte sie ihre Gefühle, drückte Miss Woolf ihre Hand. Ursula merkte, dass Miss Woolf selbst vor Emotionen nahezu vibrierte.
    Als das Stück zu Ende war, herrschte einen Augenblick lang reine, tiefe Stille, als hätte die Welt aufgehört zu atmen, doch statt von Lob und Applaus wurde die Stille von Sirenengeheul unterbrochen – »Bombenangriffe in zwanzig Minuten«. Es war ein merkwürdiger Gedanke, dass dieser Alarm von den Mädchen im Fernschreibraum des Gebäudes ausgegeben wurde, in dem sie arbeitete.
    »Na los«, sagte Mr. Simms, stand auf und seufzte tief, »gehen wir.« Als sie draußen waren, wurde die Alarmstufe erhöht. Sie hatten mit etwas Glück noch zwölf Minuten Zeit, um die Leute unter ständigem Sirenengeheul in die Schutzräume zu drängen.
    Ursula selbst nutzte die

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