Die Unvollendete: Roman (German Edition)
hatte. »Ist er wirklich reif für die Ehe?« Maurice war nach Hause gekommen, um zu verkünden, dass er sich mit einem Mädchen namens Edwina verlobt hatte, der ältesten Tochter eines Bischofs. »Ach, du meine Güte«, sagte Sylvie, »müssen wir niederknien?«
»Mach dich nicht lächerlich«, sagte Maurice, und Hugh sagte: »Wie kannst du es wagen, so mit deiner Mutter zu sprechen?« Es war ein insgesamt schrecklich übellauniger Besuch.)
Mr. Carver war nicht so übel gewesen. Er hatte viel von Esperanto gehalten, was ihr damals absurd und exzentrisch erschienen war, doch jetzt dachte Ursula, dass eine universelle Sprache wie früher Latein sinnvoll wäre. O ja, meinte Miss Woolf, eine gemeinsame Sprache wäre eine wunderbare Idee, aber vollkommen utopisch. Wie alle guten Ideen, sagte sie betrübt.
Ursula war als Jungfrau nach Europa aufgebrochen, kehrte jedoch nicht als solche zurück. Dafür hatte sie Italien zu danken. (»Also, wenn man in Italien keinen Liebhaber findet, wo dann?«, sagte Millie.) Er, Gianni, promovierte in Philologie an der Universität von Bologna und war ernster und nachdenklicher, als Ursula je von einem Italiener erwartet hätte. (In Bridgets Liebesromanen waren Italiener schneidig, aber nicht vertrauenswürdig.) Gianni ging mit einer lernbegierigen Ernsthaftigkeit an die Sache und gestaltete den Initiationsritus weniger peinlich und unbeholfen, als sie befürchtet hatte.
»Mann«, sagte Kathy, »du traust dich was.« Sie erinnerte Ursula an Pamela. In mancher Beziehung, aber nicht in jeder – nicht in ihrer frohgemuten Ablehnung Darwins zum Beispiel. Kathy, eine Baptistin, sparte sich für die Ehe auf, doch ein paar Monate nach ihrer Rückkehr nach Chicago schrieb ihre Mutter Ursula und teilte ihr mit, dass Kathy bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen war. Sie musste das Adressbuch ihrer Tochter durchgegangen sein und einem nach dem anderen geschrieben haben. Was für eine schreckliche Aufgabe. Für Hugh hatten sie nur eine Anzeige in die Times gesetzt. Die arme Kathy hatte sich für nichts aufgespart. Das Grab ein schön ruhiges Plätzchen ist/doch niemand sich dort je geküsst.
»Miss Todd?«
»Entschuldigung, Mr. Emslie. Hier ist es wie in einer Krypta. Lauter uralte Tote.«
»Ja, und ich möchte gern raus, bevor ich auch einer werde.«
Während sie vorsichtig weiterkroch, drückte ihr Knie auf etwas Weiches, Nachgiebiges, und sie hob es sofort wieder an, schlug sich dabei den Kopf an einem geborstenen Balken an und löste eine Staublawine aus.
»Alles in Ordnung?«, fragte Mr. Emslie.
»Ja«, sagte sie.
»Hält uns etwas auf?«
»Einen Moment.« Sie war einmal auf eine Leiche gestoßen und hatte die weiche, fleischartige Konsistenz wiedererkannt. Sie musste nachsehen, auch wenn sie bei Gott nicht wollte. Sie leuchtete mit der Taschenlampe auf einen staubigen Haufen Stoff – Gehäkeltes und Bänder, Wolle, zum Teil in den Boden gepresst. Es hätte der Inhalt eines Nähkörbchens sein können. Aber das war es natürlich nicht. Sie zog eine Schicht Wolle zurück und dann noch eine, als würde sie ein schlecht verpacktes Paket oder einen störrischen Kohlkopf auspacken. Schließlich stieß sie in der komprimierten Masse auf eine makellose Hand, einen kleinen Stern. Sie nahm an, dass sie Emil gefunden hatte. Besser, dass seine Mutter tot war und das nicht sehen musste, dachte sie.
»Vorsicht, Mr. Emslie«, sagte sie über die Schulter, »hier liegt ein Baby, versuchen Sie, daran vorbeizukriechen.«
»Alles in Ordnung?«, fragte Miss Woolf, als sie endlich wie die Maulwürfe wieder herauskamen. Der Brand auf der anderen Straßenseite war fast gelöscht, und die dunkle Straße war matschig vor Ruß und Dreck. »Wie viele?«, fragte Miss Woolf.
»Ziemlich viele«, sagte Ursula.
»Leicht rauszuholen?«
»Schwer zu sagen.« Sie gab ihr Renees Ausweis. »Dort unten liegt auch ein Baby, leider ziemlich zugerichtet.«
»Es gibt Tee«, sagte Miss Woolf. »Holen Sie sich eine Tasse.«
Als sie mit Mr. Emslie zur mobilen Kantine ging, bemerkte sie erstaunt ein Stück die Straße entlang einen Hund, der in einem Hauseingang kauerte.
»Ich komme gleich nach«, sagte sie zu Mr. Emslie. »Bringen Sie mir bitte eine Tasse Tee mit. Zwei Stück Zucker.«
Es war ein kleiner unauffälliger Terrier, der vor Angst wimmerte und zitterte. Der größte Teil des Hauses hinter dem Eingang war verschwunden, und Ursula fragte sich, ob es das Zuhause des Hundes gewesen war, ob er auf
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