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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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erinnerte sie an die Arme und Beine, die der Bahrenträger in der Nacht eingesammelt hatte. »Die Umstände diktieren, wie ich ihn nennen sollte – Lucky, auch wenn es ein Klischee ist. Er hat mir das Leben gerettet, ich hätte Tee getrunken, wenn ich ihm nicht nachgelaufen wäre.«
    »Verdammte Idioten«, sagte er noch einmal. »Soll ich Sie nach Hause bringen?«
    »Das wäre nett«, sagte Ursula, aber sie führte ihn nicht »um die Ecke« nach Phillimore Gardens. Stattdessen gingen sie müde die Kensington High Street entlang, Hand in Hand wie Kinder, der Hund neben ihnen. Die Straße war so früh am Morgen nahezu menschenleer, nur einmal mussten sie einer brennenden Gasleitung ausweichen.
    Ursula wusste, wohin sie gingen, es war unvermeidlich.

    In Izzies Schlafzimmer hing an der Wand gegenüber dem Bett ein gerahmtes Bild. Es war ein Original, eine Illustration der ersten Abenteuer des Augustus, die Zeichnung eines frechen Jungen und seines Hundes. Es grenzte an eine Karikatur – die Schuljungenmütze, Augustus’ rotzige Frechheit und der ziemlich dämlich dreinblickende Westie, der keinerlei Ähnlichkeit mit dem wirklichen Jock hatte.
    Das Bild passte überhaupt nicht zu dem Zimmer, wie Ursula es in Erinnerung hatte, bevor es eingemottet wurde – ein feminines Boudoir voll elfenbeinfarbener Seide und pastellfarbenem Satin, kostbarer Fläschchen aus geschliffenem Glas und emaillierter Bürsten. Ein schöner Aubusson-Teppich lehnte fest eingerollt und verschnürt an einer Wand. An einer anderen Wand hatte ein minderer Impressionist gehangen, und Ursula vermutete, dass Izzie ihn gekauft hatte, weil er zum Dekor passte, und nicht, weil sie den Künstler schätzte. Der Impressionist war irgendwo sicher weggepackt, doch die Illustration schien vergessen worden zu sein, oder vielleicht lag Izzie auch nicht mehr viel daran. Wie auch immer, durch das Glas zog sich diagonal von einer Ecke zur anderen ein Sprung. Ursula erinnerte sich an die Nacht, als sie und Ralph im Weinkeller gewesen waren, die Nacht, als das Holland House zerbombt wurde, vielleicht stammte der Schaden von damals.
    Izzie hatte sich vernünftigerweise entschieden, nicht bei »der trauernden Witwe«, wie sie Sylvie nannte, in Fox Corner zu bleiben, da sie sich nur »wie Hund und Katz streiten« würden. Sie hatte sich nach Cornwall zurückgezogen, in ein Haus auf einer Klippe (»wie Manderley, schrecklich wild und romantisch, ohne eine Mrs. Danvers Gott sei Dank«), wo sie für eine populäre Tageszeitung »am laufenden Band« neue Abenteuer des Augustus als Comicstrip produzierte.
    Wie viel interessanter es doch wäre, dachte Ursula, wenn sie ihren Augustus hätte älter werden lassen, so wie Teddy älter geworden war.
    Eine buttrige Sonne versuchte, sich durch die dicken Samtvorhänge zu drängen. Was musst du denn/Durch Fenster und Bettvorhang nach uns spähn?, dachte sie. Wenn sie in einer früheren Zeit leben und sich einen Liebhaber nehmen könnte, dann wäre es Donne. Nicht Keats, das Wissen um seinen vorzeitigen Tod würde alles unglücklich einfärben. Das war natürlich das Problem mit Zeitreisen (abgesehen von ihrer Unmöglichkeit) – man wäre immer eine Kassandra und würde mit seiner Kenntnis späterer Ereignisse Unheil verbreiten. Es war ermüdend erbarmungslos, aber die einzige Richtung, in die man sich bewegen konnte, war vorwärts.
    Obwohl es November war, hörte sie draußen einen Vogel singen. Wahrscheinlich stürzte der »Blitz« die Vögel ebenso in Verwirrung wie die Menschen. Was taten die Explosionen ihnen an? Vermutlich kosteten sie zahllosen Vögeln das Leben, ihre armen Herzen blieben vor Schreck einfach stehen, oder die Druckwellen brachten ihre winzigen Lungen zum Platzen. Sie mussten wie gewichtslose Steine vom Himmel fallen.
    »Du siehst nachdenklich aus«, sagte Fred Smith. Er lag da, einen Arm unter dem Kopf, und rauchte eine Zigarette.
    »Und du wirkst seltsamerweise, als ob du hier zu Hause wärst«, sagte sie.
    »Das bin ich«, sagte er, grinste, schlang die Arme um sie und küsste ihren Nacken. Sie waren beide schmutzig, als hätten sie die ganze Nacht in einer Kohlenmine geschuftet. Sie erinnerte sich, wie rußverschmiert sie gewesen waren, als sie in der Lokomotive mitgefahren war. Das letzte Mal, dass sie Hugh lebend gesehen hatte.
    In der Melbury Road gab es kein heißes Wasser, es gab überhaupt kein Wasser und keinen Strom, alles abgestellt. Sie waren im Dunkeln unter das Tuch auf Izzies bloßer

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