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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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Sicherheit und Schutz hoffte und nicht wusste, wohin er sonst gehen sollte. Als sie sich ihm jedoch näherte, rannte er auf der Straße davon. Verdammter Hund, dachte sie, und lief ihm nach. Schließlich erwischte sie ihn und hob ihn hoch, damit er nicht noch einmal davonlaufen konnte. Er zitterte am ganzen Körper, und sie drückte ihn an sich und redete beruhigend auf ihn ein, so wie Mr. Emslie mit Renee gesprochen hatte. Sie drückte das Gesicht in sein Fell (das widerlich schmutzig war, aber das war sie auch). Er war so klein und hilflos. »Das Töten der Unschuldigen«, hatte Miss Woolf neulich gesagt, als sie hörten, dass im East End eine Bombe direkt in einer Schule detoniert war. Aber waren sie nicht alle unschuldig? (Oder waren sie alle schuldig?) »Dieser Blödmann Hitler sicherlich nicht«, hatte Hugh gesagt, als sie sich zum letzten Mal unterhalten hatten, »es geht alles auf seine Kappe, dieser ganze Krieg.« Würde sie ihren Vater wirklich nie wiedersehen? Ein Schluchzer entkam ihr, und der Hund jaulte, schwer zu sagen ob aus Angst oder Mitgefühl. (Alle Mitglieder der Familie Todd – außer Maurice – schrieben Hunden menschliche Gefühle zu.)
    In diesem Augenblick hörte sie in ihrem Rücken einen ungeheuerlichen Krach, der Hund versuchte wieder, ihr zu entkommen, und sie musste ihn festhalten. Als sie sich umdrehte, sah sie, wie die Giebelmauer des Gebäudes, das gebrannt hatte, einstürzte, nahezu in einem Stück, die Ziegel prasselten auf brutale Weise auf den Boden und begruben die Kantine unter sich.

    Zwei Frauen und Mr. Emslie kamen um. Und Tony, ihr Botenjunge, der gerade auf seinem Rad vorbeigefahren war, leider nicht schnell genug. Miss Woolf kniete sich auf die zerbrochenen scharfzackigen Ziegel, ohne den Schmerz zu bemerken, und nahm seine Hand. Ursula ging neben ihr in die Hocke.
    »Oh, Anthony«, sagte Miss Woolf, mehr brachte sie nicht zustande. Haare hatten sich aus ihrem stets ordentlichen Knoten gelöst, und sie sah wild aus, eine Gestalt aus einer Tragödie. Tony war bewusstlos – er hatte eine schlimme Kopfwunde, sie hatten ihn unsanft unter der eingestürzten Mauer hervorgezogen –, und Ursula wollte etwas Ermutigendes sagen, damit er nicht merkte, wie betroffen sie waren. Sie erinnerte sich, dass er bei den Pfadfindern war und begann, von den Freuden des Lebens unter freiem Himmel zu sprechen, vom Aufstellen eines Zelts auf einer Wiese, von einem plätschernden Fluss in der Nähe, vom Sammeln von Feuerholz, vom morgendlichen Dunst, der sich auflöste, während das Frühstück brutzelte. »Was für einen Spaß du wieder haben wirst, wenn der Krieg vorbei ist«, sagte sie.
    »Deine Mutter wird sich schrecklich freuen, wenn du heute Abend nach Hause kommst«, sagte Miss Woolf und spielte die Scharade mit. Sie unterdrückte einen Schluchzer. Tony gab nicht zu erkennen, ob er sie gehört hatte, und sie sahen zu, wie er langsam totenbleich wurde, die Farbe von dünner Milch annahm. Er war gestorben.
    »O Gott«, sagte Miss Woolf und weinte. »Ich ertrage es nicht.«
    »Aber wir müssen es ertragen«, sagte Ursula und wischte sich den Rotz und die Tränen und den Schmutz mit der Hand von den Wangen und dachte dabei, dass dieser Wortwechsel einst genau andersherum verlaufen wäre.

    »Verdammte Idioten«, sagte Fred Smith zornig, »warum haben sie diese verdammte Kantine genau da abgestellt? Direkt neben der Giebelmauer?«
    »Sie wussten es nicht«, sagte Ursula.
    »Es hätte ihnen aber verdammt noch mal klar sein sollen.«
    »Dann hätte es ihnen verdammt noch mal jemand klarmachen sollen«, sagte Ursula, die plötzlich auch wütend war. »Ein verdammter Feuerwehrmann zum Beispiel.«
    Es wurde bereits hell, und sie hörten die Entwarnung.
    »Ich dachte, ich hätte Sie gesehen, aber dann habe ich geglaubt, ich hätte es mir nur eingebildet«, sagte Ursula, um Frieden zu schließen. Er war zornig, weil sie tot waren, nicht weil sie dumm waren.
    Sie kam sich vor, als befände sie sich in einem Traum und würde sich von der Realität entfernen. »Ich bin so gut wie tot«, sagte sie. »Ich muss schlafen, sonst werde ich verrückt. Ich wohne gleich um die Ecke«, fügte sie hinzu. »Es war reines Glück, dass es nicht unser Haus getroffen hat. Reines Glück, dass ich dem Hund nachgelaufen bin.« Ein Mann vom Rettungstrupp hatte ihr ein Stück Seil gegeben, das sie dem Hund um den Hals gebunden und dann an einem verkohlten Pfosten befestigt hatte, der aus dem Boden ragte. Er

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