Die Unvollendete: Roman (German Edition)
nicht.«
»Euer Essen steht auf dem Tisch!«
Ursula ignorierte den Ruf. Sie war Leibeigene ihrer Majestät, saß auf dem Bett, das Gesicht vor Konzentration verkniffen, während sie Wolle in die Krone von Königin Solange hakte. Es war alte beige Kammwolle, aber »Not kennt kein Gebot«, wie Sylvie zu sagen pflegte.
Maurice hätte in der Schule sein sollen, aber seine Windpocken waren am schlimmsten gewesen, und sein Gesicht war noch immer von kleinen Schorfstellen bedeckt, als hätte ein Vogel daran gepickt. »Du bleibst noch ein paar Tage zu Hause, junger Mann«, hatte Dr. Fellowes gesagt, aber in Ursulas Augen platzte Maurice vor unbändiger Gesundheit.
Er tigerte ruhelos durchs Zimmer, gelangweilt wie ein Löwe im Käfig. Unter dem Bett fand er einen von Pamelas Hausschuhen und schoss ihn herum wie einen Fußball. Dann nahm er einen Ziergegenstand aus Porzellan, die Figur einer Dame mit Krinoline, die Pamela liebte, und warf ihn so hoch in die Luft, dass er mit einem beunruhigenden Ting vom Glasschirm der Lampe abprallte. Ursula ließ ihr Strickzeug fallen und schlug entsetzt die Hände vor den Mund. Die Dame mit Krinoline landete sanft auf Pamelas weicher, satinbezogener Eiderdaunendecke, aber nicht bevor Maurice die unbeobachtete Strickliesel gepackt hatte und damit herumrannte und so tat, als wäre es ein Flugzeug. Ursula sah zu, wie die arme Königin Solange durch das Zimmer flog, die Wollschnur, die aus ihren Eingeweiden hing, flatterte hinter ihr her wie ein schmales Banner.
Und dann tat Maurice etwas wirklich Bösartiges. Er öffnete das Dachbodenfenster, ließ einen Schwall unwillkommener kalter Luft herein und schickte die kleine hölzerne Puppe in die feindselige Nacht hinaus.
Sofort schleppte Ursula einen Stuhl zum Fenster, stieg darauf und schaute hinaus. Beleuchtet vom Licht, das durch das Fenster auf das Dach fiel, lag Königin Solange auf den Ziegeln im Tal zwischen den beiden Dachfirsten.
Maurice, der jetzt ein Indianer war, sprang von einem Bett aufs andere und stieß Kriegsschreie aus. »Euer Essen steht auf dem Tisch!«, schrie Bridget nachdrücklich vom Fuß der Treppe.
Ursula ignorierte beide, ihr heldenhaftes Herz schlug laut, als sie aus dem Fenster kletterte – keine leichte Aufgabe –, entschlossen, ihre Regentin zu retten. Die Dachziegel waren vereist und glatt, und kaum hatte Ursula einen kleinen, im Hausschuh steckenden Fuß auf den Abhang unter dem Fenster gestellt, als er unter ihr davonrutschte. Sie stieß einen leisen Schrei aus, streckte die Hand nach der Strickliesel aus, als sie mit den Füßen voraus an ihr vorbeisauste, eine Schlittenfahrerin ohne Schlitten. Keine Brüstung bremste ihr Rutschen, nichts hielt sie auf, als sie auf die schwarzen Flügel der Nacht zuraste. Sie empfand eine Art Rausch, einen Nervenkitzel nahezu, als sie in die bodenlose Luft geschleudert wurde, und dann nichts.
Es wurde dunkel.
Schnee
11. Februar 1910
D as Senfgemüse war grellgelb wie Gelbsucht. Dr. Fellowes aß am Küchentisch im Licht einer ärgerlich rauchenden Öllampe. Er schmierte das Senfgemüse auf das gebutterte Brot und legte eine dicke Scheibe fetten Schinken darauf. Er dachte an die Speckseite, die kühl in seiner Vorratskammer lag. Er hatte das Schwein selbst ausgesucht, vor dem Bauern mit dem Finger darauf gedeutet und dabei nicht ein lebendes Wesen gesehen, sondern ein Lehrstück in Anatomie – eine Ansammlung von Lenden und Hachsen, Backen und Bauch und riesige Schinkenstücke zum Kochen. Fleisch. Er dachte an das Baby, das er mit einem Schnitt seiner chirurgischen Schere dem Tod aus dem Rachen gerissen hatte. »Das Wunder des Lebens«, sagte er leidenschaftslos zu dem ruppigen irischen Mädchen. (»Bridget, Sir.«) »Ich muss über Nacht bleiben«, fügte er hinzu. »Wegen des Schnees.«
Ihm fielen viele Orte ein, an denen er lieber gewesen wäre als in Fox Corner. Warum hieß es so? Warum ließ man der Wohnstatt eines so verschlagenen Tiers diese Ehre zuteil werden? Als junger Mann war Dr. Fellowes zur Jagd geritten, in feschem Rot. Er fragte sich, ob das Mädchen am Morgen ein Tablett mit Tee und Toast in sein Zimmer bringen würde. Stellte sich vor, wie sie heißes Wasser aus einem Krug in die Waschschüssel goss und ihn vor dem Feuer im Schlafzimmer einseifte, wie es seine Mutter vor Jahrzehnten getan hatte. Dr. Fellowes war seiner Frau hartnäckig treu, aber seine Gedanken schweiften hemmungslos umher.
Bridget führte ihn mit einer Kerze hinauf. Die
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