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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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Hälfte seines Lebens in der Schule wohnte. Nicht im Gästezimmer oder im zweiten Gästezimmer oder in Teddys eigenem kleinen Zimmer, das fast zur Gänze von seiner Eisenbahn eingenommen wurde. Nicht im Bad oder im Wäscheschrank. Auch unter den Betten war Teddy nicht oder in den Kleiderschränken oder in einem der vielen Kästchen, noch lag er – sein Lieblingstrick – reglos wie eine Leiche unter Sylvies großer Daunendecke.
    »Unten gibt’s Kuchen, Teddy«, rief sie in die leeren Räume. Das Versprechen von Kuchen, ob es nun stimmte oder nicht, reichte normalerweise, um Teddy aus der Deckung zu locken.
    Ursula stapfte die schmale dunkle Holztreppe zu den Schlafzimmern auf dem Dachboden hinauf, und kaum hatte sie den Fuß auf die erste Stufe gesetzt, empfand sie plötzlich einen Stich Angst. Sie hatte keine Ahnung, warum oder woher sie kam.
    »Teddy! Teddy, wo bist du?« Ursula versuchte die Stimme zu heben, aber die Worte waren geflüstert.
    Er war nicht im Schlafzimmer, das sie und Pamela sich teilten, nicht in Mrs. Glovers altem Zimmer. Nicht in der Rumpelkammer, einst ein Kinderzimmer und jetzt das Zuhause von Truhen und Schrankkoffern, Umzugskisten voller alter Kleider und ausrangiertem Spielzeug. Es blieb nur noch Bridgets Zimmer.
    Die Tür stand offen, und Ursula musste ihre Füße zwingen, darauf zuzugehen. Hinter der offenen Tür befand sich etwas Schreckliches. Sie wollte es nicht sehen, aber sie wusste, dass sie musste.
    »Teddy!«, sagte sie, über die Maßen erleichtert bei seinem Anblick. Teddy saß auf Bridgets Bett, sein Geburtstagsflugzeug auf den Knien. »Ich hab dich überall gesucht«, sagte Ursula. Trixie lag auf dem Boden neben dem Bett und sprang freudig auf, als sie sie sah.
    »Ich habe gedacht, dass es vielleicht gut für Bridget ist«, sagte Teddy und streichelte das Flugzeug. Teddy hatte großes Vertrauen in die heilenden Kräfte von Spielzeugeisenbahnen und Flugzeugen. (Er würde Pilot werden, wenn er erwachsen wäre, versicherte er ihnen.) »Ich glaube, Bridget schläft, aber ihre Augen sind offen«, sagte er.
    Sie waren offen. Weit aufgerissen starrten sie blind an die Decke. Ein wässriger blauer Film bedeckte diese beunruhigenden Augen, und ihre Haut hatte einen merkwürdigen lila Ton. Kobaltviolett in Ursulas Aquarellkasten von Winsor and Newton. Sie sah, dass Bridgets Zungenspitze aus ihrem Mund ragte, und einen Augenblick lang sah sie Mrs. Glover vor sich, wie sie die Kalbszunge in die Presse zwängte.
    Ursula hatte noch nie eine Leiche gesehen, aber sie wusste zweifelsfrei, dass Bridget eine Leiche geworden war. »Geh vom Bett runter, Teddy«, sagte sie vorsichtig, als wäre ihr Bruder ein wildes Geschöpf, das sich gleich auf sie stürzen würde. Sie begann am ganzen Leib zu zittern. Nicht nur, weil Bridget tot war, obwohl das schlimm genug war, sondern auch weil hier etwas Gefährliches lauerte. Die kahlen Wände, die dünne Bettdecke mit Jacquardmuster auf dem eisernen Bettgestell, die Bürste und der Kamm aus Email auf der Kommode, der Flickenteppich auf dem Boden, alles war plötzlich ungeheuer bedrohlich, als wären die Gegenstände nicht das, was sie zu sein schienen. Ursula hörte Sylvie und Dr. Fellowes auf der Treppe. Sylvies Tonfall war dringlich, Dr. Fellowes klang weniger besorgt.
    Sylvie kam herein und schnappte nach Luft. »O mein Gott«, sagte sie, als sie Ursula in Bridgets Zimmer sah. Rasch hob sie Teddy vom Bett und zog Ursula am Arm auf den Flur. Trixie sprang ihnen nach und wedelte begeistert von der Aufregung mit dem Schwanz. »Geht in dein Zimmer«, sagte Sylvie. »Nein, geht in Teddys Zimmer. Nein, geht in mein Zimmer. Geht jetzt «, sagte sie und klang verzweifelt, überhaupt nicht wie die Sylvie, die sie kannten. Sie kehrte in Bridgets Zimmer zurück und zog entschlossen die Tür zu. Sie hörten nur, wie Sylvie und Dr. Fellowes murmelnd Worte wechselten, und schließlich sagte Ursula »Komm jetzt« zu Teddy und nahm ihn bei der Hand. Er ließ sich gefügig von ihr die Treppe hinunter und in Sylvies Schlafzimmer führen. »Hast du was von Kuchen gesagt?«, fragte er.

    »Teddys Haut hat die gleiche Farbe wie die Bridgets«, sagte Sylvie. Ihr Magen war hohl vor Angst. Sie wusste, was sie vor sich sah. Ursula war nur blass, auch wenn ihre geschlossenen Augenlider dunkel verfärbt waren und ihre Haut seltsam kränklich schimmerte.
    »Heliotrope Zyanose«, sagte Dr. Fellowes und nahm Teddys Puls. »Und sehen Sie die kleinen braunen Flecken auf

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