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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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seinen Wangen? Sie deuten leider auf den bösartigen Erreger.«
    »Hören Sie auf, bitte, hören Sie auf«, zischte Sylvie. »Halten Sie mir keinen Vortrag, als wäre ich eine Medizinstudentin. Ich bin ihre Mutter. « Wie sehr sie Dr. Fellowes in diesem Moment hasste. Bridget lag oben in ihrem Bett, noch warm, aber so tot wie der Marmor eines Grabmals. »Die Grippe«, fuhr Dr. Fellowes gnadenlos fort. »Ihr Mädchen hat sich gestern unter die Menschenmassen in London gemischt – perfekte Bedingungen für die Ausbreitung einer Infektion. Es kann sie von einem Augenblick auf den anderen erwischen.«
    »Aber nicht ihn«, sagte Sylvie heftig und packte Teddys Hand. »Nicht mein Kind. Nicht meine Kinder«, verbesserte sie sich und langte hinüber, um Ursulas heiße Stirn zu streicheln.
    Pamela stand auf der Schwelle, und Sylvie scheuchte sie fort. Pamela begann zu weinen, aber Sylvie hatte keine Zeit für Tränen. Nicht jetzt, nicht im Angesicht des Todes.
    »Ich muss doch irgendetwas tun können«, sagte sie zu Dr. Fellowes.
    »Sie können beten.«
    »Beten?«
    Sylvie glaubte nicht an Gott. Für sie war die biblische Gottheit eine absurde, rachsüchtige Gestalt (Tiffin und so weiter) und nicht realer als Zeus oder der große Gott Pan. Pflichtbewusst ging sie jedoch jeden Sonntag in die Kirche und vermied es, Hugh mit ihren häretischen Gedanken zu beunruhigen. Not kennt kein Gebot und so weiter. Jetzt betete sie mit verzweifelter Überzeugung, aber ohne Glauben, und nahm an, dass es so oder so nichts nützte.
    Als aus Teddys Nasenlöchern blassblutiger Schaum wie Kuckucksspeichel austrat, gab Sylvie einen Laut wie ein verwundetes Tier von sich. Mrs. Glover und Pamela horchten vor der geschlossenen Tür und hielten sich in einem seltenen Moment der Einigkeit bei den Händen. Sylvie riss Teddy vom Bett und drückte ihn fest an ihre Brust und heulte vor Schmerz.
    Du lieber Gott, dachte Dr. Fellowes, die Frau trauerte wie eine Wilde.

    Sie schwitzten gemeinsam in dem Durcheinander von Sylvies Leintüchern. Teddy lag mit ausgestreckten Gliedern auf den Kissen. Ursula wollte ihn an sich drücken, aber er war zu heiß, und so klammerte sie sich stattdessen an einen Knöchel, als wollte sie ihn am Fortlaufen hindern. Ursulas Lunge fühlte sich an, als wäre sie voller Vanillesoße, dick und gelb und süß.
    Als es Nacht wurde, starb Teddy. Ursula wusste genau, wann er ging, sie spürte es in sich. Sie hörte nur ein elendes Stöhnen von Sylvie, und dann hob jemand Teddy aus dem Bett, und obwohl er nur ein kleiner Junge war, schien ihr, als wäre etwas Gewichtiges von ihrer Seite genommen worden, und Ursula lag allein im Bett. Sie hörte Sylvies ersticktes Schluchzen, ein grausames Geräusch, als hätte ihr jemand einen Arm oder ein Bein abgehackt.
    Jeder Atemzug drückte die Vanillesoße in ihrer Lunge zusammen. Die Welt zog sich zurück, und sie begann sich langsam auf etwas zu freuen, als stünde Weihnachten oder ihr Geburtstag vor der Tür, und dann näherte sich die schwarze Fledermaus Nacht und schlang ihre Flügel um sie. Ein letzter Atemzug, und dann nichts mehr. Sie streckte eine Hand nach Teddy aus, aber er war nicht mehr da.
    Es wurde dunkel.

Schnee
    11. Februar 1910
    S ylvie zündete eine Kerze an. Es war winterlich dunkel, fünf Uhr morgens auf der kleinen goldenen Reiseuhr auf dem Kaminsims. Die Uhr, eine alte englische Uhr (»Besser als eine französische«, hatte ihre Mutter erklärt), hatten ihre Eltern zur Hochzeit geschenkt bekommen. Als nach dem Tod des Porträtmalers die Gläubiger einfielen, versteckte die Witwe die Uhr unter ihren Röcken und bedauerte, dass Krinolinen aus der Mode waren. Lottie bimmelte jede Viertelstunde, was die Gläubiger aus der Fassung brachte. Zum Glück waren sie nicht im Raum, als sie die volle Stunde schlug.
    Das neue Baby schlief in seiner Wiege. Plötzlich ging Sylvie eine Zeile von Coleridge durch den Sinn: Liebes Kindlein, das du an meiner Seite schläfst. Welches Gedicht war das?
    Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt, nur winzige Flammen tanzten noch auf den Kohlen. Das Baby begann zu wimmern, und Sylvie stand vorsichtig auf. Eine Geburt war eine brutale Angelegenheit. Wäre ihr die Verantwortung oblegen, die menschliche Rasse zu entwerfen, wäre sie die Sache ganz anders angegangen. (Ein goldener Lichtstrahl ins Ohr, um ein Kind zu zeugen, und eine gut eingepasste Klappe an einer züchtigen Stelle, um es neun Monate später zu entnehmen.) Sie stieg aus der Wärme

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