Die Unvollendete: Roman (German Edition)
sagte Miss Fawcett in der Arbeit. Sie heiratete und hörte auf zu arbeiten, und sie hatten alle zusammengelegt für ein Hochzeitsgeschenk, eine nicht gerade inspirierende Blumenvase, doch Ursula wollte ihr etwas Persönlicheres, etwas Besonderes schenken, aber sie wusste nicht, was, und hatte gehofft, dass die Kaufhäuser im West End genau das Richtige hätten. Sie hatten es nicht.
In einem Lyon’s hatte sie eine bleiche Tasse Tee getrunken, Lämmchenwasser hätte Bridget gesagt, und ein gewöhnliches Stück Teekuchen gegessen. Sie zählte genau zwei harte trockene Rosinen und schmeckte einen Hauch Margarine und versuchte sich vorzustellen, etwas Köstliches zu essen – eine üppige Cremeschnitte oder ein Stück Dobostorte. Sie nahm an, dass die Deutschen im Moment mit Gebäck nicht gerade verwöhnt wurden.
Sie murmelte Schwarzwälder Kirschtorte laut vor sich hin (so ein ungewöhnlicher Name, so eine ungewöhnliche Torte) und zog damit die unerwünschte Aufmerksamkeit der Frau am Nachbartisch auf sich, die sich stoisch durch ein großes Brötchen mit Zuckerguss arbeitete. »Sind Sie Flüchtling?«, fragte sie und überraschte Ursula mit ihrem mitfühlenden Tonfall.
»So etwas Ähnliches«, sagte Ursula.
Während sie darauf wartete, dass das Wasser mit dem Ei kochte – es war erst lauwarm –, suchte sie in den nach Kensington nie ausgepackten Kisten mit den Büchern. Sie fand den Dante, den Izzie ihr geschenkt hatte, ein hübsch verzierter roter Ledereinband, aber alle Seiten stockfleckig, eine Ausgabe von Donne (ihr Lieblingsdichter), Das öde Land (eine seltene Erstausgabe, die sie Izzie geklaut hatte), Gesammelte Werke von Shakespeare, ihre geliebten metaphysischen Dichter und schließlich am Grund der Kiste die zerfledderte Schulausgabe von Keats mit der Widmung: Für Ursula Todd. Gut gearbeitet! Der Spruch würde sich vermutlich auch für ihren Grabstein eignen. Sie blätterte die vernachlässigten Seiten durch, bis sie »Der St.-Agnes-Abend« fand.
St. Agnes’ Abend – bitter eisig war’s!
Dem Kauz, trotz all der Federn, wurde kühl;
Der Hase lahmte durchs gefrorne Gras,
Und kein Schaf schrie im wolligen Gewühl.
Sie las es laut, und die Worte ließen sie schaudern. Sie sollte etwas Wärmendes lesen, Keats und seine Bienen – Weil Sommer ihre Waben überfließt. Keats hätte auf englischem Boden sterben sollen. An einem Sommernachmittag schlafend in einem englischen Garten. Wie Hugh.
Sie aß das Ei und las dabei die Times vom Vortag, die sie von Mr. Hobbs von der Poststelle bekam, nachdem er sie gelesen hatte, ein kleines tägliches Ritual, das sie eingeführt hatten. Die neuerdings geschrumpften Ausmaße der Zeitung ließen sie irgendwie lächerlich wirken, als wären auch die Nachrichten weniger wichtig. Aber das waren sie auch, oder?
Draußen vor dem Fenster fielen Schneeflocken wie schmierige graue Asche. Sie dachte an die Verwandten der Coles in Polen – sie stiegen wie eine vulkanische Aschewolke über Auschwitz auf, umkreisten die Erde und verdunkelten die Sonne. Sogar jetzt noch, nachdem die Menschen erfahren hatten, was in den Lagern passiert war, grassierte der Antisemitismus. »Judenjunge« hatte sie gestern jemand rufen hören, und als Miss Andrews sich nicht an Miss Fawcetts Hochzeitsgeschenk beteiligen wollte, hatte sich Enid Barker darüber mokiert und gesagt: »Was für eine Jüdin«, als wäre es die harmloseste Beleidigung.
Das Büro war dieser Tage ein langweiliger, leicht reizbarer Ort – Müdigkeit wahrscheinlich, aufgrund der Kälte und des Mangels an gutem, sättigendem Essen. Und die Arbeit war auch langweilig, eine endlose Zusammenstellung und Anhäufung von Statistiken, die irgendwo in den Archiven abgelegt werden mussten – um dann vermutlich von den Historikern der Zukunft studiert zu werden. Sie waren nach wie vor dabei, »aufzuräumen und ihr Haus in Ordnung zu bringen«, wie Maurice sich ausdrückte, als wären die Kriegstoten Gerümpel, das man wegräumte und vergaß. Der Zivilschutz war vor über eineinhalb Jahren aufgelöst worden, aber sie hatte die bürokratischen Einzelheiten immer noch nicht abgearbeitet. Die Mühlen Gottes (oder der Regierung) mahlten in der Tat extrem gründlich und langsam.
Das Ei war köstlich, es schmeckte, als wäre es an diesem Morgen gelegt worden. Sie fand eine alte Postkarte mit dem Brighton Pavilion darauf (gekauft während eines Tagesausflugs mit Crighton), die sie nie verschickt hatte, schrieb schnell einen
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