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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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reden.
    Und dann. Eine Überraschung. Wieder. Nachdem sie die rückwärtige Treppe zum Dachboden hinaufgelaufen war, um etwas zu holen, etwas Unschuldiges – ein Buch, ein Taschentuch, sie würde sich später nie erinnern, was –, rannte Howie sie auf dem Weg nach unten fast um. »Ich suche eine Toilette«, sagte er.
    »Wir haben nur eine«, sagte Ursula, »und sie ist nicht dort ob…«, doch bevor sie den Satz beenden konnte, wurde sie ungeschickt gegen die nie beachtete Blümchentapete des Treppenhauses gedrückt, die seit der Erbauung des Hauses dort an den Wänden klebte. »Hübsches Mädchen«, sagte er. Sein Atem roch nach Pfefferminze. Und dann wurde sie von dem übergroßen Howie gestoßen und bedrängt. Aber dieses Mal war es nicht seine Zunge, die sich in ihren Mund bohren wollte, sondern es geschah etwas unaussprechlich Intimeres.
    Sie versuchte, etwas zu sagen, aber bevor sich ihr ein Laut entringen konnte, hatte er ihr die Hand über den Mund, ja über das halbe Gesicht gelegt, und er grinste und sagte »psst«, als wären sie Verschwörer in einem Spiel. Mit der anderen Hand fummelte er an ihrer Kleidung herum, und sie wand sich protestierend. Und dann rammte er sie, so wie die Bullen auf der unteren Weide das Gatter rammten. Sie versuchte, sich zu wehren, aber er war doppelt, ja dreimal so groß wie sie, und sie hätte genauso gut eine Maus in Hatties Maul sein können.
    Sie versuchte zu sehen, was er tat, aber er drückte sich so eng an sie, dass sie nur seinen breiten kantigen Kiefer und die dünnen Stoppel darauf sah, die sie aus der Distanz nicht bemerkt hatte. Ursula hatte ihre Brüder nackt gesehen, sie wusste, was sie zwischen den Beinen hatten – verschrumpelte Herzmuscheln, eine kleine Tülle –, doch das schien wenig gemeinsam zu haben mit diesem schmerzhaften kolbenartigen Ding, das wie eine Kriegswaffe in ihr herumfuhrwerkte. Ihr Körper wurde durchbrochen. Der Bogen, der zur Weiblichkeit führte, war nicht mehr so triumphal, sondern nur noch brutal und vollkommen gefühllos.
    Und dann stieß Howie einen lauten Schrei aus, es klang eher nach Ochse als nach einem Oxford-Mann, packte sich wieder ein und grinste sie an. »Englische Mädchen«, sagte er und schüttelte lachend den Kopf. Er drohte ihr mit dem Finger, nahezu missbilligend, als hätte sie die widerliche Begebenheit dirigiert, die sich gerade zwischen ihnen abgespielt hatte, und sagte: »Du bist mir eine!« Er lachte noch einmal und lief die Treppe hinunter, nahm drei Stufen auf einmal, als wäre sein Abstieg von ihrem merkwürdigen Rendezvous kaum unterbrochen worden.
    Ursula starrte auf die Blümchentapete. Nie zuvor war ihr aufgefallen, dass die Blumen Glyzinienblüten waren, die gleiche Blume, die sich über den Bogen an der Hintertür rankte. Das musste gewesen sein, was in der Literatur »deflorieren« genannt wird, dachte sie. Es hatte immer wie ein hübsches Wort geklungen.
    Als sie eine halbe Stunde später wieder nach unten ging, eine halbe Stunde voller wesentlich intensiverer Gedanken und Gefühle, als für einen Samstagmorgen üblich waren, standen Sylvie und Hugh an der Tür und winkten pflichtbewusst dem kleiner werdenden Heck von Howies Auto nach.
    »Gott sei Dank, dass sie nicht geblieben sind«, sagte Sylvie. »Ich glaube nicht, dass ich mir Maurice’ Schwadronieren hätte anhören wollen.«
    »Schwachköpfe«, sagte Hugh gut gelaunt. »Alles in Ordnung?«, sagte er, als er Ursula im Flur stehen sah.
    »Ja«, sagte sie. Jede andere Antwort wäre zu schrecklich gewesen.

    Ursula fiel es leichter, als sie gedacht hatte, diesen Vorfall wegzusperren. Hatte Sylvie nicht gesagt, dass man über einen Fehltritt später per definitionem nicht mehr sprach? Ursula stellte sich einen Schrank vor, einen Eckschrank aus schlichtem Kiefernholz. Howie und die rückwärtige Treppe wurden in ein Fach weit oben geschoben und der Schlüssel im Schloss umgedreht.
    Ein Mädchen sollte wirklich klüger sein, als sich allein auf der Treppe – oder in der Anlage – erwischen zu lassen wie die Heldin in einem der Schauerromane, die Bridget so gern las. Aber wer hätte gedacht, dass die Realität so schmutzig und blutig wäre? Er musste etwas in ihr gespürt haben, etwas Unzüchtiges, dessen nicht einmal sie sich bewusst war. Bevor sie ihn wegsperrte, war sie den Vorfall wieder und wieder durchgegangen, um herauszufinden, wo ihre Schuld lag. Auf ihrer Haut, in ihrem Gesicht musste etwas geschrieben stehen, was manche Menschen

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