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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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Unwiderrufliches, dass allein bei dem Gedanken daran etwas in ihr Feuer fing und brannte. Sie spürte Sylvies Ausgabe von Wie man kleine Kinder und Mädchen mit der Fortpflanzung vertraut macht von Dr. Beatrice Webb auf, die Sylvie theoretisch in einer Truhe in ihrem Schlafzimmer unter Verschluss hielt, aber die Truhe war nie verschlossen, weil Sylvie den Schlüssel vor langer Zeit schon verloren hatte. Fortpflanzung schien das Letzte, womit sich die Autorin beschäftigte. Sie riet, Mädchen davon abzulenken, indem man ihnen viel »selbstgebackenes Brot, Kuchen, Haferbrei, Süßspeisen gab und regelmäßig kaltes Wasser auf ihrem Geschlechtsteil verspritzte«. Das war keine Hilfe. Ursula schauderte beim Gedanken an Howies »Teil« und wie es sich mit ihrem in einem widerwärtigen Akt vereinigt hatte. Taten das auch Sylvie und Hugh? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Mutter sich so etwas bieten ließ.
    Sie warf heimlich einen Blick in Mrs. Shawcross’ medizinische Enzyklopädie. Die Shawcross machten Ferien in Norfolk, aber ihr Hausmädchen dachte sich nichts dabei, als Ursula vor der Hintertür stand und sagte, sie sei gekommen, um sich ein Buch anzusehen.
    Die Enzyklopädie beschrieb den »Geschlechtsakt« als etwas, was nur »in der liebevollen Atmosphäre des ehelichen Betts« stattfand und nicht auf der rückwärtigen Treppe, unterwegs, um ein Taschentuch oder ein Buch zu holen. Die Enzyklopädie erklärte auch die Folgen, wenn man es nicht schaffte, dieses Taschentuch oder Buch zu holen – die ausbleibende Monatsblutung, die Übelkeit, die Gewichtszunahme. Offenbar dauerte es neun Monate. Und jetzt war bereits Juli. Bald müsste sie sich wieder in ihren marineblauen Trägerrock zwängen und jeden Morgen zum Bus gehen, der sie und Millie in die Schule brachte.
    Ursula begann lange Spaziergänge zu machen. Millie, der sie sich hätte anvertrauen können (aber hätte sie es wirklich getan?), war nicht da, und Pamela war mit ihrer Pfadfinderinnengruppe in Devon. Ursula hatte sich nie für die Pfadfinderinnen interessiert, was sie jetzt bereute – sie hätten ihr vielleicht genügend Grips eingebleut, um mit Howie fertigzuwerden. Eine Pfadfinderin hätte dieses Taschentuch oder Buch geholt, ohne sich unterwegs aufhalten zu lassen.
    »Stimmt irgendetwas nicht, Liebes?«, fragte Sylvie, während sie gemeinsam Socken stopften. Sylvie nahm jedes ihrer Kinder als Person nur dann wahr, wenn es einzeln auftrat. Zusammen waren sie eine schwer in den Griff zu kriegende Herde, jedes für sich hatte Charakter.
    Ursula überlegte, was sie sagen könnte. Erinnerst du dich an Maurice’ Freund Howie? Ich glaube, ich bin die Mutter seines Kindes. Sie blickte zu Sylvie, die heiter das Loch in einer von Teddys Socken stopfte. Sie sah nicht aus wie eine Frau, deren »Teile durchbrochen« worden waren. (Offenbar eine »Vagina« gemäß Mrs. Shawcross’ Enzyklopädie – kein Wort, das im Haushalt der Todds jemals geäußert worden wäre.)
    »Nein, alles in Ordnung«, sagte Ursula. »Mir geht’s gut. Wirklich.«

    Am Nachmittag ging sie zum Bahnhof, setzte sich auf eine Bank am Bahnsteig und überlegte, ob sie sich vor den Schnellzug werfen sollte, als er auch schon vorbeiraste. Der nächste Zug fuhr nach London und blieb langsam schnaubend auf eine Weise vor ihr stehen, die ihr so vertraut war, dass sie am liebsten geweint hätte. Sie sah Fred Smith, der von der Lokomotive herunterstieg, sein Overall ölverschmiert und sein Gesicht schmutzig vom Kohlenstaub. Er bemerkte sie, kam zu ihr und sagte: »So ein Zufall, fahren Sie mit meinem Zug?«
    »Ich habe keine Fahrkarte«, sagte Ursula.
    »Macht nichts«, sagte Fred, »ein Wort von mir, und der Schaffner wird eine Freundin mitfahren lassen.« War sie eine Freundin von Fred Smith? Es war ein tröstlicher Gedanke. Wenn er von ihrem Zustand wüsste, wäre er natürlich nicht länger ein Freund. Niemand wäre es.
    »Ja, gut, danke«, sagte sie. Keine Fahrkarte zu haben war ein so kleines Problem.
    Sie sah zu, wie Fred zurück in das Führerhaus der Lokomotive kletterte. Der Bahnhofsvorsteher stapfte den Bahnsteig entlang und knallte die Türen so endgültig zu, als würden sie nie wieder geöffnet werden. Dampf stieg aus dem Schornstein, und Fred Smith steckte den Kopf aus dem Führerhaus und rief: »Beeilen Sie sich, Miss Todd, oder Sie müssen dableiben«, und sie stieg gehorsam ein.
    Der Bahnhofsvorsteher pfiff, erst kurz, dann lang, und der Zug fuhr langsam aus dem

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