Die Unvollendete: Roman (German Edition)
vor ihr auf. Er hatte die Statur eines Boxers. Unter einem Auge hatte er tatsächlich einen kleinen blauen Fleck. Fred Smith, einst der Fleischerjunge, jetzt bei der Eisenbahn, boxte. Maurice hatte mit ein paar Freunden Fred bei einem Amateurkampf im East End angefeuert. Offenbar war die Sache in einen alkoholgetränkten Tumult ausgeartet. Howie roch nach Haarwasser mit Lorbeerspiritus – Hughs Geruch –, und er hatte etwas Glänzendes und Neues an sich wie eine frisch geprägte Münze.
»Hast du ihn gefunden?«, fragte sie. »Den Ball?« Sie klang in ihren eigenen Ohren piepsig. Sie hatte Gilbert für den Gutaussehenden von den beiden gehalten, doch konfrontiert mit Howies eleganter, unkomplizierter Kraft – wie die eines großen Tiers –, kam sie sich dumm vor.
»Wie alt bist du?«, fragte er.
»Sechzehn«, sagte sie. »Ich habe heute Geburtstag. Du hast die Torte gegessen.« Sie war eindeutig nicht die einzige Dumme.
»Hoi«, sagte er. Ein zweideutiges Wort (nah verwandt mit seinem Namen, wie sie bemerkte), das Erstaunen zu signalisieren schien, als wäre das Erreichen des sechzehnten Lebensjahrs eine große Leistung. »Du zitterst«, sagte er.
»Es ist eiskalt.«
»Ich wärme dich«, sagte er, und dann – die Überraschung – fasste er sie an den Schultern, zog sie an sich und – eine Aktion, für die er sich weit hinunterbeugen musste – drückte seine dicken Lippen auf ihre. »Küssen« schien ein zu höfliches Wort für das, was Howie tat. Er stieß mit seiner Zunge, riesig wie die eines Ochsen, gegen das Gatter ihrer Zähne, und sie staunte, als sie begriff, dass sie den Mund öffnen und seine Zunge einlassen sollte. Sie würde bestimmt ersticken. Mrs. Glovers Zungenpresse in der Küche kam ihr ungefragt in den Sinn.
Ursula überlegte, was sie tun sollte, der Lorbeerspiritus und der Sauerstoffmangel ließen sie schwindeln, als sie Maurice in der Nähe rufen hörten: »Howie! Wir fahren ohne dich!« Ursulas Mund wurde freigegeben, und ohne ein Wort zu ihr zu sagen, brüllte Howie so laut »Komme«, dass es ihr in den Ohren weh tat. Dann ließ er sie los und stürmte durchs Gebüsch davon, und Ursula schnappte nach Luft.
Benommen schlenderte sie zum Haus zurück. Alle standen noch in der Einfahrt, obwohl sie das Gefühl hatte, als wären Stunden vergangen, aber wahrscheinlich waren es wie in den besten Märchen nur Minuten gewesen. Im Esszimmer leckte Hattie vorsichtig an den Ruinen der Torte. Die Abenteuer des Augustus lagen auf dem Tisch und waren mit ein bisschen Glasur verschmiert. Ursula hatte noch immer Herzklopfen aufgrund des Schocks, den ihr Howies Annäherungsversuch versetzt hatte. An ihrem sechzehnten Geburtstag geküsst zu werden und noch dazu auf so unerwartete Weise erschien ihr eine nicht unerhebliche Leistung. Sie ging bestimmt gerade unter dem Triumphbogen hindurch, der zur Weiblichkeit führte. Wenn es nur Benjamin Cole gewesen wäre, dann wäre es perfekt gewesen!
Teddy, »der kleine Bruder«, kam ziemlich sauer herein und sagte: »Sie haben meinen Ball verloren.«
»Ich weiß«, sagte Ursula.
Er schlug das Buch auf der Titelseite auf, auf die Izzie schwungvoll geschrieben hatte: Für meinen Neffen, Teddy. Mein lieber Augustus.
»Was für ein Blödsinn«, sagte Teddy und blickte finster drein. Ursula nahm ein halb volles Glas Champagner, dessen Rand mit Lippenstift verschmiert war, und goss die Hälfte davon in eine Sektflöte, die sie Teddy reichte. »Prost«, sagte sie. Sie stießen mit den Gläsern an und tranken sie bis auf den letzten Tropfen aus.
»Alles Gute zum Geburtstag«, sagte Teddy.
Mai 1926
Z u Beginn des Monats erfuhr Pamela, die die Krücken abgelegt hatte und wieder Tennis spielte, dass sie die Aufnahmeprüfung für Cambridge nicht bestanden hatte. »Ich habe den Kopf verloren«, sagte sie. »Ich habe die Fragen gesehen, die ich nicht beantworten konnte, und dann bin ich so nervös geworden, dass ich es vermasselt habe. Ich hätte mehr pauken sollen, oder wenn ich einfach ruhig geblieben wäre und nachgedacht hätte, dann hätte ich es wahrscheinlich geschafft.«
»Es gibt andere Universitäten, wenn du so entschlossen bist, ein Blaustrumpf zu werden«, sagte Sylvie. Sylvie betrachtete es als sinnlos, dass Mädchen studierten, auch wenn sie nicht wirklich damit herausrückte und es aussprach. »Schließlich ist es die höchste Berufung einer Frau, zu heiraten und Mutter zu werden.«
»Dir wäre es also lieber, wenn ich über einem heißen
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