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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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Gesicht nicht vergessen, das mich ansieht … Nie könnte ich es mir verzeihen, in diesem Moment, wo der Kampf unsere eigene Partei spaltet, nicht an seiner Seite gewesen zu sein. Silone, Tresso, Leonetti ausgeschlossen! Die Unversöhnlichkeit, das Sektierertum gegenüber den Sozialisten haben die antifaschistischen Kräfte gespalten und damit dem Kapitalismus Vorschub geleistet, den wir beim 5. Kongreß aufgrund der großen Krise schon überwunden glaubten. Wie viele neue Hoffnungen, wie viele mögliche Eroberungen in ganz Europa erblühten vor unserem inneren Auge! Alles dahin, in wenigen Jahren! Der Abfall Atatürks, die Spartakisten vernichtet, Rosa Luxemburg ermordet! Und dann dieser Kleinbürger Hitler, den alle auslachten und der nun die Wahlen gewinnt und ›demokratisch‹ an die Macht kommt. Eine Höllennacht, Modesta! Als hätte mir jemand in einem einzigen Traum meine ganze lange Vergangenheit vor Augen führen wollen, meine gesamten vierzig Jahre! Ich sah die Freude meiner Mutter, als sie mich umarmte und wiederholte: ›Zumindest du wirst frei sein, mein Kind! Die türkischen Frauen stehen auf der Schwelle zueiner neuen Ära. Von heute an wirst du wählen und dein Schicksal selbst in die Hand nehmen können.‹ Und im selben Moment ihre gealterten, eingefallenen Gesichtszüge im Pariser Exil, und daneben das gequälte Gesicht von … Oh, Modesta, ich muß aufbrechen! Die Ruhe und Heiterkeit dieses Hauses sind nicht für Überlebende wie uns, entwurzelt und vielleicht besiegt. Für uns, deren Seinsgrund, wie Jose sagt, allein im Kampf liegt.«
    »Ich könnte ein Schiff für Euch auftreiben, Joyce, doch nur, wenn ich den wahren Grund für Eure Eile erfahre. Ihr habt von vielen Dingen gesprochen, doch ohne mir zu erklären, wer Ihr seid, ich meine, Ihr als Person. Und dieses ›unser Seinsgrund liegt allein im Kampf‹ drängt mich dazu, Euch nicht gehen zu lassen. Ihr behauptet, alt zu sein, Joyce, dabei seid Ihr nur müde und, verzeiht meine Offenheit, außer Euch. Wie könnte ich es verantworten, Euch in diesem Zustand ein Schiff besteigen zu lassen? Wir schreiben nicht mehr das Jahr ’22 oder ’24, sondern das Jahr ’33. Ich lasse Euch nur abreisen, wenn Ihr mir sagt, daß Ihr von jemandem erwartet werdet, der sich um Euch kümmert.«
    Zum ersten Mal blickt Joyce mir lange in die Augen. Nun, wo ihr Schutzwall aus Worten gefallen ist, senkt sie den Kopf und verbirgt das Gesicht in den Armen. Die schwarze Masse ihrer Haare flutet zwischen uns über den Tisch: eine glänzende Sommernacht …
    »Woraus besteht die Nacht, Tuzzu?«
    »Woher soll ich das wissen?«
    »Wenn du mich auf deine Schultern hebst, kann ich sie anfassen und es dir sagen.«
    »Na, dann laß mal hören, jetzt hast du sie angefaßt, woraus besteht sie?«
    »Wenn Ihr von niemandem erwartet werdet, Joyce, lasse ich Euch nicht abreisen.«
    Ihr Haar läßt meine Liebkosung zu, oder ist es nur mein Arm, der sie an einer Geste der Abwehr hindert? Ich ziehe die Hand zurück, und sofort rührt sie die befreiten Schultern. Meine Hand bleibt enttäuscht auf dem Schreibtisch liegen.
    »Was für schöne Hände Ihr habt, Modesta, das war mir noch gar nicht aufgefallen. Nein, laßt sie hier, Eure Liebkosung spendet mir Trost, genau wie damals als Kind, wenn meine Mutter mich streichelte.«
    Ohne es zu merken, hatte ich den weiten Weg um den Tisch zurückgelegt, bis ich neben ihr saß und beobachtete, wie auch meine zweite, eiskalte Hand zwischen den ihren verschwand.
    »Und wie klein sie sind, so aus der Nähe betrachtet! Ihr seid merkwürdig, Modesta, manchmal scheint Ihr so groß und stark, dann wieder schmächtig und zart wie ein kleines Mädchen. Als Ihr mir vorhin sagtet: ›Ich lasse Euch nicht gehen‹, fühlte ich mich geradezu befreit, wie in meiner Kindheit, als ich mich auf die Entscheidung der Älteren und Stärkeren verlassen konnte. Lange ist es her, daß ich mich jemandem anvertrauen konnte. Natürlich sind da die Genossen, Jose war immer an meiner Seite. Aber eine Frau zur Freundin zu haben ist etwas anderes, und Ihr seid für mich wie eine Freundin, Modesta.«
    Meine Hände waren zwischen den ihren zu neuem Leben erwacht und sammelten Kraft und Entschlossenheit. Ich entzog sie ihren Handflächen, schlang sie um ihre Taille und sagte mit einem Nachdruck, den sie im Moment brauchte (oder übertrieb ich es und würde sie damit erschrecken?):
    »Freundin, Joyce, gewiß. Ihr müßt mir vertrauen und Euch entspannen, Euch

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