Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
nicht mehr alleine wärst? Du siehst immer schlampiger aus. Wie ist es möglich, daß du immer noch keine Gefährtin gefunden hast, die dir die Knöpfe annäht?‹, klipp und klar geantwortet: ›Ach komm, Angelica, es geht dir doch gar nicht um die Knöpfe, du machst dir nur Sorgen, daß mein Gerät Rost ansetzt wie alle Maschinen, die nicht regelmäßig gebraucht werden.‹ Und sie, du hättest sie sehen sollen, Modesta, empört und knallrot wie ein kleines Mädchen: ›Ich sprach von Liebe, Jose!‹ – ›Vergißdie Liebe, Angelica! Zum Glück gibt es ja noch die wunderbaren Hetären, die einzig wahren Frauen, die alleinigen Rebellinnen, die geben und nehmen können, wie ein Mann es will, ohne falsche Gefühle und Schmeicheleien.‹ Armer Jose! Mit seinem Humor widersetzt er sich, so gut er kann, Angelicas freier Liebe und auch der legalisierten Liebe der Bourgeoisie, aber letztlich fällt auch er darauf herein: Ich habe ihn gesehen, und wie ich ihn gesehen habe!«
Nun gab sie es ja sogar zu. Selbst wenn sie nicht in ihn verliebt war, er war es mit Sicherheit! Wie auch konnte man Joyce begegnen, ohne sich in sie zu verlieben? Zum ersten Mal in meinem Leben schlief ich mit dem nagenden Gefühl der Eifersucht im Kopf ein, das auch im Schlaf wie ein inneres Feuer in mir brannte, bis ich des Morgens endlich die Stunden zählen konnte, die mich noch von ihr trennten.
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Als der Morgen graute, den ich im Dunkeln so sehnsüchtig erwartet hatte, schliffen seine Strahlen die Umrisse der Möbel und der Bücher Onkel Jacopos, die nun, da sie nicht mehr hinter Glas gesperrt waren, befreit ihre heiteren Geschichten erzählen konnten. Seit er wieder bei uns war, hatte auch ich mir angewöhnt, ihn Onkel zu nennen, um nicht unseren kleinen Jungen und seinen nachdenklichen Erwachsenenblick mit diesem gequälten Gesicht zu verwechseln, das mich von der Fotografie herab ansah. Doch immer noch nagte es in dem knöchernen Gebälk meines geistigen Kämmerleins und trieb mich aus dem Bett durch das Zimmer, wo ich Schubladen undFenster öffnete und schloß. Drinnen war es stickig, doch wenn ich die Fensterläden öffnete, überfiel mich die kompakte Eisfläche des wolkenlosen Himmels, der im tiefsten Winter ebenso klar und blank ist wie im Sommer. Wie sehr hatte ich mich nach dieser blankgeschliffenen Bläue gesehnt, während der langen Winter meiner Reisen durch den Norden! Nein, nicht noch einmal würde ich aufbrechen. Sie war diejenige, die gehen und das lästige Nagen mit sich forttragen mußte; auch wenn ich es nicht auszusprechen wage, weiß ich doch, daß es einen Namen hat: Eifersucht. Nun habe ich es doch gesagt, und das Wort, dessen Bedeutung ich früher nicht kannte, löst sich für einen Moment von meinen Gefühlen, so daß ich es anschauen, anfassen kann wie eine Vase, ein Glas, ein Ding, das man dreht und wendet und von allen Seiten betrachtet. Darin liegt also der Sinn, die Dinge beim Namen zu nennen: Dieses Nagen, dem meine Stimme Gestalt gegeben hat, ist viel hinterlistiger, formloser und unfaßbarer als jedes Gefühl, das ich bisher kannte. Und es war, was ich niemals geglaubt hätte, geradezu physisch, ein dumpfes, anhaltendes Stechen wie von spitzen Nadeln, wie Zahnschmerzen … Dieser Türke Nazim, Held des Proletariats trotz seiner adligen Herkunft, arm und gefangen trotz einer in Reichtum und Machtfülle in der Villa am Bosporus verbrachten Kindheit, gemeinsam mit seiner kleinen Freundin Joyce, Tochter eines italienischen Botschafters und einer türkischen Adeligen … Wenn ihr so viel daran liegt, unerreichbar zu sein, soll sie gehen! Sie weiß nicht, daß der Dampfer, für den ich das Billett schon zerrissen habe, noch nicht abgelegt hat. Und schnell ist Pietro herbeigerufen, um sie zum Hafen zu bringen.
»Herein, Joyce, es ist offen.«
»O Modesta! Nur ganz kurz, ich muß dringend mit Euch reden. Ich muß abreisen, verzeiht, wenn ich darauf bestehe, ich muß wirklich gehen! Irgendwie muß ich zu Jose nach Paris gelangen. Das körperliche und geistige Wohlleben hier, die Fröhlichkeit Eurer Kinder – ganz wunderbarer Kinder! Selbst Stellas ’Ntoni, so elegant und klug, all das ist der lebende Beweis für die marxistische Grundüberzeugung, daß das Umfeld den Menschen prägt –, die Sanftheit Stellas und der Pinien und des Meeres hätten mich beinah meine Pflichten gegenüber Jose und den Genossen vergessen lassen. Bis zu dieser schrecklichen Nacht voller Alpträume! Immer noch kann ich Joses gequältes
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