Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
auch Bambú auf meine Frage, wer ihr denn die schöne Bernsteinkette geschenkt habe, die sie so oft um den Hals trägt, geantwortet hat: ›Die haben mir Papa und Mama dieses Jahr gebracht.‹«
»Gewiß, so erinnert sich Bambolina an ihren Vater und daran, wer ihn ermordet hat, aber ohne sich zu fürchten.«
»In der Tat war sie ganz heiter dabei.«
»Alle Kinder auf der Insel erzählen am zweiten November beim Spielen von ihren Toten, die weder in der Hölle noch im Himmel sind, sondern bei ihnen. Selbst die Kirche hat vor diesem heidnischen Brauch stets ein Auge zugedrückt. Und es ist das erste Mal, daß ein fremder König oder Führer versucht, diese Tradition abzuschaffen. Aber wenn ich und Ihr im November nicht im Gefängnis sitzen, nehme ich Euch mit nach Catania, und dann werdet Ihr die große Chiana dei Morti sehen, das Totenfeld, das jedes Jahr neu erstrahlt und in einem Lichtermeer aus Fackeln zum Leben erwacht, mit Bergen von Keksen und Spielzeug, und wo man für Fremde und den Tod nur ein Lachen übrig hat.«
»O mein Gott, Modesta, was ist diese Chiana dei Morti?«
»Der große Platz im Zentrum Catanias, auf dem alle Eltern, Brüder, Onkel, ob reich oder arm, die ganze Nacht lang zwischen bunten Ständen, hell erleuchteten Geschäften, in Cafés und überfüllten Restaurants bei dem ein oder anderen Glas Wein im Auftrag der lieben Toten die Geschenke für die Kleinsten zusammensuchen.«
»Zu gern würde ich mit Euch die Marionetten anschauen gehen und auch dieses merkwürdige Totenfest. Vorausgesetzt, sie sperren uns nicht vorher ein! Auch wenn der Gedanke an den Tod, wie ich zugeben muß, mich sehr erschreckt. Genau wie Ihr, Modesta. Ich will ehrlich sein, seitdem das Gewitter über uns hereingebrochen ist, verhaltet Ihr Euch mir gegenüber anders. Ich habe Eure Geschichten sehr genossen, dennoch empfand ich eine gewisse Feindseligkeit. Oder ist es die Tropea, die Euch Sorgen bereitet?«
»Nein, Joyce. Wir sind hier an Sturmfluten und Erdbeben gewöhnt. Ein Satz von Euch hat mich getroffen, so wie er Stella und jede andere Frau auf der Welt getroffen hätte. Aber vielleicht übertreibe ich auch, macht Euch nichts daraus. Wir Insulaner sind ein wenig mißtrauisch.«
»Ich verstehe nicht, habe ich etwas gesagt, das Euch und Stella beleidigt hätte?«
»Dieses künstliche Licht ist so düster, Joyce. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr jetzt das Fenster wieder aufmachen.«
»Aber der Sturm?«
»Öffnet, sage ich.«
»O Gott, Modesta, woher wußtet Ihr das? Jetzt ist wieder alles blau und ruhig. Diese Stille ist beängstigender als Blitz und Donner. Ich werde niemals Ruhe finden, Modesta, weder hier noch anderswo!«
Ich hatte sie noch nie zittern sehen. Vielleicht ist ihr nur kalt. Auch das Weiß ihrer Bluse zittert.
»Euch ist kalt, Joyce, kommt hierher ans Feuer.«
Sie kauert sich auf dem Sofa zusammen, als wolle sie sich verkriechen. Und ich quäle sie seit Stunden mit düsteren Geschichten und Verdächtigungen. Ihre Verzweiflung durchrieselt mich in vielen kleinen Freudenschauern. Ich muß sie wenigstens umarmen.
»Ich bin Eurer Schwesternliebe nicht würdig, Modesta!«
Was meint sie damit? Das Kaminfeuer brennt auf meinem Mund. Nein, es ist nicht das Feuer, es sind ihre Lippen, die sich auf meine pressen, und ihre Zunge, die von meinem Speichel kostet. Ich will diese Zunge mit den Zähnen festhalten, aber:
»O Modesta, ich bin Eurer nicht würdig, nein, ich bin es nicht!«
Was redet sie nur? Ich versuche ihr zu folgen, doch sie hat bei ihrer Flucht die Tür hinter sich zugeworfen. Mein Kopf, meine Stirn stehen in Flammen, und ein freudiges Lächeln steigt mir von der Brust in die Wangen. Das also war das ganze Geheimnis, die halben Geständnisse, die Aufregung. Und ich hielt sie für eine Spionin!
62
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dort gestanden hatte, den Kopf an die Tür gelehnt und aufgewühlt über meine Einfalt lachend, als eilige Schritte auf der Treppe mich aus meinen Träumereien rissen. Kam sie etwa zurück? Ich hätte dasselbe getan. Doch die Hand rutschte mir vom Türgriff, als ich Stellas Stimme hörte, die um Einlaß bat.Bestimmt hatten Jacopo und Bambú sich beim Nachlaufen verletzt. Nein, nicht Bambú, Jacopo! Er ist der Zerbrechlichere der beiden. Den lieben langen Tag in seinem Zimmer über die Bücher gebeugt.
»Mody, Mody, ich bin’s, Stella, mach um Himmels willen auf!«
»Was ist denn, Stella? Sag bloß nicht, daß Jacopo sich weh getan hat, denn dann bekommt
Weitere Kostenlose Bücher