Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
ausruhen.«
Ergeben ließ sie den Kopf auf meine Schulter sinken.
»Aber Jose wartet doch auf mich. Was wird er von mir denken? Ich müßte ihm Bescheid geben, aber wie nur?«
»Ich werde Jose schreiben.«
»Aber das ist gefährlich, die Post …«
»Nein, nein, ich werde einen anderen Weg finden, ihm den Brief zukommen zu lassen.«
»Welch ein Friede, Modesta, nach all den argwöhnischen Gesichtern, den nicht ausgesprochenen Worten, dem alarmierten Zusammenfahren bei jedem Telefonklingeln, dort, in Mailand, bei den wenigen Freunden, die mir nicht die Tür vor der Nase zuschlugen. Es war schrecklich! Lediglich zwei der alten Genossen und Freunde ließen mich noch ein … und einer von ihnen nur für wenige Sekunden! Das werde ich nie vergessen, es war ein Samstag, er im Schwarzhemd, bebend vor Angst, ein kurzer Abschied, bevor er zur Zusammenkunft ging.«
»Ihr dürft sie nicht verurteilen. Der Duce hat sie alle bezwungen, mit Unterstützung seiner Geheimpolizei und ihres feinen Arturo Bocchini. Kein Tag vergeht, an dem nicht ein Freund, ein Bekannter vor deinen Augen seine Meinung ändert. Oder an dem du ein Geschäft betrittst und am entschlossenen Blick des Verkäufers erkennst, daß er auf die andere Seite übergelaufen ist.«
»Auch hier auf Sizilien?«
»Ja, auch hier, wenngleich nicht so auffällig wie im Norden.«
»Aber Ihr seid so ruhig, so gelassen!«
»Es gibt keinen Grund, seine Kräfte mit nutzloser Angst zu vergeuden. Man muß eben vorsichtig sein …«
»Vorsichtig sein? Ihr habt mir mißtraut, stimmt’s, Modesta?«
»Natürlich, und ich mißtraue Euch noch immer, denn heutzutage kann jeder Besucher – selbst mit Empfehlungsschreibeneines Freundes – ein Abgesandter unseres guten Bocchini sein.«
Sie erwiderte nichts, doch ihr Kopf sank noch schwerer auf meine Schulter. Ich verstand diese stumme Zeichensprache nicht. Nie zuvor hatte jemand so zu mir gesprochen. Entweder war diese Frau, die vielleicht eine Spionin war, listiger, als ich gedacht hatte, oder ihre Ermattung war ehrlich. Um diesem nach Jasmin duftenden Schweigen zu entrinnen, drückte ich sie an mich, sie sollte etwas sagen oder gehen.
»Ihr habt mir nichts von Carlo erzählt, Modesta.«
»Ihr habt mich nicht nach ihm gefragt, Joyce.«
»Jose hatte mir gesagt, ich solle mich zurückhalten, um keine alten Wunden aufzureißen. Er sagte, daß Ihr sehr gelitten hättet nach Carlos Tod. Von seinen Mördern weiß man noch immer nichts?«
»Jose hatte recht, es ist zu bitter, darüber zu sprechen.«
»Mißtraut Ihr mir noch immer, Modesta?«
»Es sind doch kaum ein paar Sekunden vergangen, Joyce, warum sollte ich Euch nicht mehr mißtrauen?«
»Verzeiht meine Hartnäckigkeit, aber Ihr seid mir vom ersten Moment mit solcher Freundlichkeit begegnet, daß ich es einfach nicht glauben kann, und erst jetzt fällt mir auf, daß Euch in all unseren Gesprächen kein einziger Name über die Lippen gekommen ist.«
»Und es wird mir auch niemals ein Name über die Lippen kommen, da könnt Ihr ganz beruhigt sein. Wärt Ihr tatsächlich eine Spionin, Ihr bekämt nicht mehr heraus, als daß ich vielleicht eine Antifaschistin bin, weil ich Euch Unterschlupf gewähre und im ganzen Haus weder ein Bild vom Duce noch vom König hängt und meine Kinder nicht zu den Zusammenkünften am Samstagabend gehen und keine Uniform tragen. Aber das ist inCatania kein Geheimnis, auch daß ich ein wenig seltsam und vielleicht nicht ganz richtig im Kopf bin. Das ist das Vorrecht der Brandiforti.«
»Und trotz Eures Verdachts haltet Ihr mich umschlungen und liebkost meinen Kopf wie eine Schwester?«
»Ich wüßte nicht, warum eine Spionin keine Schwester haben sollte.«
Wie ein jäher Wind fegte ihr langes, tiefes Lachen den Jasminduft hinfort. Nein, es war nicht der Wind. Sie war aufgestanden und hinterließ in meinen Armen den warmen Abdruck ihres Oberkörpers, der mich verwirrte. Auch ich erhob mich, blieb jedoch auf meinem Platz stehen. Während Joyce lachte und ans Fenster trat, wurde sie wieder groß, streng, unerreichbar.
»In Eurer Nähe, Modesta, überkommt mich eine Fröhlichkeit, die ich für immer verloren geglaubt hatte. ›Auch Spione haben eine Schwester!‹ Was für ein Romantitel! Jose hat mir erzählt, daß Ihr schreibt.«
»Ja, aber nicht über Politik. Tut mir leid, Euch jede Hoffnung nehmen zu müssen, auch dort fändet Ihr nichts, weder Namen noch Fakten. Mehr noch, Ihr fändet unzählige Abstrusitäten, die nur ein weiterer
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