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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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Beleg meiner Absonderlichkeit wären.«
    »Wie Eure Art zu leben, nicht wahr? Was könnte ich letztlich berichten? Weder mittags noch abends wird das Essen serviert, jeder kommt und geht, wie er will. Reiche und adlige Kinder, die sich eigenhändig den Tisch decken und sich selbst bedienen, ja manchmal sogar selbst kochen müssen, wenn sie aus irgendeinem Grund außerhalb der Arbeitszeiten der Köchin essen wollen … Und dann Mela mit ihrem Vogelgesichtchen, mager wie ein Krückstock, ganz große Augen, immer am Rockzipfel dieser eleganten kleinen Dame Bambú, und Ihr, die Ihr sie aufeigene Kosten bei hervorragenden Pianisten ausbilden laßt. O Modesta, außer der Fröhlichkeit packt mich jetzt ein ganz schrecklicher Hunger!«
    »Hunger nach Informationen oder nach Nahrung?«
    »Hunger, echter Hunger, wie ich ihn seit Jahren nicht mehr verspürt habe! Lassen wir die Arbeit für heute ruhen und essen wir gemeinsam, Modesta, ich bitte Euch. Oh, seht nur, was für ein außergewöhnlicher Anblick! Schaut, wie das Gewitter herannaht.«
    »Das ist die Tropea, die ihren Zorn herausschreit, die Tropea mit zerzausten Haaren, aus denen Blut und Wind tropfen.«
    Ich mußte die Fenster fest verschließen, sonst würde der Sturm sie aufreißen, und keiner wäre vor dem Regen sicher, den die Sonne vor sich hertrieb: Feuer und Wasser mähten die Pinien nieder, köpften Vögel und Blumen. Gerade noch rechtzeitig und unter Aufbietung all meiner Kraft gelang es mir, die Läden, die Fenster, die Blenden und Vorhänge zu schließen. Wir standen nun im Dunkeln, doch von draußen trommelte und kratzte die wütende Dame an den Fenstern und verlangte Einlaß.
    »Wie stark Ihr seid, Modesta! Ihr überrascht mich immer wieder.«
    »Ich scheine dazu geboren zu sein, andere zu überraschen, das ist ein ewiger Kehrreim seit ich auf der Welt bin. Bitte wundert Euch nicht länger und macht das Licht an.«
    »Oh, Modesta, seht nur der Kronleuchter: Das Haus bebt ja!«
    »Der Zorn der Tropea geht schnell vorüber, gerade eine Zigarettenlänge. Wollt Ihr nicht rauchen?«
    »Es ist schrecklich … Ihr habt recht, es klingt wie das Geschrei einer Geisteskranken.«
    »Die Bäume und das Meer erwidern ihre Schreie, und vielleicht gab es einen leichten Erdstoß. Aber seid gewiß, in wenigen Minuten ist alles vorbei.«
    »Passiert das häufiger, da Ihr so ruhig seid?«
    »Mindestens einmal im Jahr erinnert sich die Dame an das Unrecht, das ihr vor Urzeiten widerfahren ist, und zieht gegen den Berg in die Schlacht. Hier auf der Insel lebt die Erinnerung an die Kriegerinnen weiter, an jene Frauen, die mit einem Schwert jeden niedermetzelten, der sie beleidigt hatte.«
    »Heilige vielleicht?«
    »Nein, keine Heiligen! Echte Ritterinnen ohne Furcht und Tadel, die im Schwingen der Schwerter einem Orlando nicht nachstanden.«
    »Die Marionetten? Aber natürlich, Jose hat mir von ihnen erzählt. Aber nicht von weiblichen Figuren.«
    »Ich werde mit Euch die kleinen Heldinnen anschauen gehen, deren Profile so sanft sind wie Stellas und die dabei Nerven wie Drahtseile haben. Dann seht Ihr, wie furchterregend sie in ihrer Kriegswut sind! Die Kirche versucht seit Jahrhunderten, sie zu vertreiben, wie unser Marionettenspieler Insanguine sagt. Genau wie der Faschismus uns unsere Toten nehmen will und mit ihnen die Erinnerung an unsere ureigensten Traditionen.«
    »Eure Toten, Modesta? Das verstehe ich nicht.«
    »Ja, es wurde verkündet, daß allein das Fest der faschistischen Befana im Januar für die Kinder erhalten bleiben soll, wie im Norden. Das hat unsere Leute tief getroffen, die um des lieben Friedens willen äußerlich eingewilligt haben. Aber sie erinnern sich trotzdem und schließen in der Nacht des ersten November unseren Toten weiterhin die Türen auf, damit sie auf Zehenspitzen in die Häuser schleichen und unseren Kindern Geschenke und kleine Botschaftenbringen können. Süßigkeiten und Spielzeug, damit sie nicht vergessen, daß es den Tod gibt und daß sie auch im Tod weiterleben.«
    »Darum gab es zu Weihnachten keinen Baum! Als ich Jacopo fragte, ob er das nicht schade finde, hat er gesagt: ›Das sind doch alles Ammenmärchen, wir bekommen die Geschenke von unseren Toten.‹ Ich muß gestehen, Modesta, daß ich mich so vor diesen Worten aus einem Kindermund fürchtete, daß ich mich nicht traute, weiter nachzufragen. Ich dachte, er mache Spaß. Jacopo kann so ironisch sein, daß es einen in Verlegenheit bringt. Und jetzt fällt mir wieder ein, daß

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