Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
ich höre erst auf, als auch ihre Arme sich leicht wie ihr Blick öffnen, ihre Stirn und ihr Hals, in dem schon ein stummes Lachen pocht. Nun kennt mein Glück keine Grenzen mehr, und ich kann in meinen Sessel zurückkehren.
»Nein, Modesta, nein! Bleibt hier! In Eurer Nähe verspüre ich eine Freude, wie ich sie noch nie erlebt habe.«
Nachdem sie mich aufgefordert hat – nicht nur mitWorten, sondern indem sie zur Seite gerückt ist –, kann ich mich hinlegen: ich auf der Decke, sie darunter.
»Ihr müßt eine glückliche Kindheit verbracht haben, wenn Ihr mir und Euren Kindern soviel Heiterkeit schenken könnt … Ihr antwortet nicht, Modesta. Ihr wart glücklich als Kind, nicht wahr? Wenn Ihr so seid wie jetzt, glaube ich ein Kind zu sehen in einem glücklichen Haus wie diesem, mit einer heiteren Mutter wie Stella.«
»Nein, Joyce, nein. Meine Mutter ist früh gestorben, und ich war bitter arm, bevor ich in das Haus Brandiforti kam.«
»Aber wie ist das möglich?«
Das Lächeln erstarb, ich durfte sie nicht mit traurigen Geschichten quälen und sagte schnell:
»Die Umstände zählen nicht so sehr. Ich war immer glücklich, das habt Ihr ganz richtig vermutet, zumindest bis heute. Wenn Ihr möchtet, erzähle ich Euch irgendwann einmal meine Geschichte.«
»Ihr habt recht, die Umstände zählen nicht so sehr. Ich war immer reich. Meine Mutter ist erst vor zwei Jahren gestorben, als ich schon erwachsen war und den Verlust verkraften konnte. Seht Ihr, Modesta, ich fühle mich verpflichtet, Euch zu versichern, daß sich meine Schwäche von gestern nicht wiederholen wird, zumindest nicht in diesem Haus. Aber ich muß Euch auch warnen, Ihr müßt Euch vor mir in acht nehmen. Seit dem Tod meiner Schwester bin ich …«
»Joland?«
»Ja, meine Schwester, wenn auch nicht leiblich. Seht Ihr, mein Vater und meine Mutter … Aber reden wir nicht von mir, Ihr seid es, die mich interessiert. Sagt, hattet Ihr trotz der Armut vielleicht Brüder, Schwestern …«
»Nein, ich war allein.«
»Unglaublich! Ganz allein, Ihr Arme! Dabei seid Ihr so gesellig und selbstbewußt inmitten all dieser außergewöhnlichen Kinder, dieser würdevollen Eleganz. Eines Tages erzählt Ihr es mir, einverstanden? Ihr würdet sehr einen alten Freund und Lehrer von mir erstaunen, dem ich – zumindest bis zu meinem beschämenden Akt gestern – meine geistige Gesundheit verdanke, die mich in den letzten Jahren aufrecht gehalten hat. Ich muß Euch gestehen, Modesta, daß ich in der frühen Jugend, als ich bei meinem Vater und meiner Mutter lebte, schon einmal einen Versuch zu sterben unternommen habe. Jener Selbstmordversuch wies mir den Weg zu meinem Studium, ich wollte den Grund des Leidens erfahren, nicht nur des körperlichen, sondern auch des seelischen. Ich studierte Medizin und dann Psychologie in Mailand. An der medizinischen Fakultät begegnete ich Carlo.«
»Ach! Wieso hat Carlo mir nie von Euch erzählt?«
»Wir sind nicht gerade in Freundschaft auseinandergegangen … ein Zwist um Überzeugungen. Hat er Euch nie von Jò erzählt?«
»Aber ja, Jò! Ich dachte immer, es handele sich um einen Mann! Er erwähnte jemanden, der dann für weiterführende Studien nach Deutschland ging. Dann wart Ihr diese Jò?«
»Ja.«
»Aber warum Jò?«
»Weil ich, wie gesagt, immer nur Männer zu Freunden hatte. Darin ähneln sich Carlo und Jose sehr, beide sind abgehoben oder zerstreut, wie Ihr es nennen wollt. Mit der Zeit jedenfalls sahen sie mich wahrscheinlich ebenfalls als Mann an.«
»Aber warum habt Ihr mir das nicht sofort gesagt?Jetzt erinnere ich mich an dieses Jò … Er paßt gut zu Euch, der kurze Name.«
»Ah, da kommt Stella mit dem Frühstück. Modesta, ich bitte Euch, kehrt in Euren Sessel zurück.«
»Warum werdet Ihr so blaß? Was ist denn dabei? Wir sind doch Frauen …«
»Also, ehrlich gesagt … ich … Guten Morgen, Stella.«
»Euch auch einen guten Morgen, gnädige Frau. Ach, da liegst du, Mody! Zum Glück, im Sessel wollte ich dich mir überhaupt nicht vorstellen. Schön ist das, meine Mody und meine Gnädigste schwatzen ein bißchen wie zwei Schwesterherzen! Es erleichtert mich sehr, meine Dame, wieder etwas Farbe in Eurem Gesicht zu sehen, ich wette, Ihr habt Hunger?«
»Großen Hunger, Stella.«
»Die zweite gute Nachricht! Dann verlasse ich euch jetzt. Ach, wie sehr habe ich mir immer eine Schwester gewünscht. Aber meine gute Mutter, Gott hab sie selig, hat immer nur Jungs hervorgebracht.«
Die mir so
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