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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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Laken hervorgezogen und ließ sie nun auf das Bettzeug sinken, umdie schneeweißen Verbände zu betrachten. Stella und ich erwarteten nun die von Licata angekündigte Krise. Aber als Joyce wieder sprach, ließ Stella die Spritze wieder sinken, die sie schon aufgenommen hatte.
    »Diese Verbände stammen von einem Arzt. Sogar einen Arzt mußtet ihr rufen! Ich schäme mich so!«
    »Grämt Euch nicht, gnädige Frau, der Arzt ist ein brüderlicher Freund Modys und des Hauses.«
    »Ich verdiene euer Vertrauen nicht, ebensowenig wie das von Jose. Mein Gott! Wie konnte ich in meiner Verzweiflung vergessen, daß mein Tod euch in Gefahr bringen würde?«
    »Gefahr, sagt Ihr? Schämen? O Heilige Jungfrau, warum leidet Ihr stumm vor Euch hin? Wir sind doch Frauen, Freundinnen …«
    Dies war der Moment, Stella hinauszuschicken. Doch während ich noch nach einer Ausrede suchte, sagte sie schon:
    »Redet mit meiner Mody, die versteht einfach alles … Ich gehe nun, ich muß noch kurz zu den Kindern, bevor sie einschlafen, vor allem Jacopo nimmt es mir am nächsten Morgen übel, wenn ich ihm am Abend keinen Kuß auf die Stirn gegeben habe. Gute Nacht Euch, gnädige Frau, und dir auch, Mody.«
    Als Stella weg war, bekam das Kind in Modesta, das jahrelang geschlummert hatte und das ich immer zu ignorieren versuchte, einen großen Schrecken, so plötzlich allein mit dieser großen Frau, die immer noch mit schmerzvollem Blick ihre Verbände musterte.
    »Ich sollte auch lieber gehen, Joyce, der Doktor meint, Ihr müßt Euch ausruhen, er wird mit mir schimpfen, wenn er morgen hört, daß ich Euch wach gehalten habe.«
    »Mit Euch schimpfen, Modesta?«
    Verlegen versuchte ich den Fauxpas des kleinen Mädchens in mir wieder auszubügeln.
    »Er ist ein alter Genosse, und hin und wieder erlaube ich ihm, mit mir zu schimpfen.«
    »Endlich erwähnt Ihr jemanden, der in diesem Haus ein und aus geht. Dann mißtraut Ihr mir nicht mehr, Modesta?«
    »Nein, Joyce.«
    »Wegen der Dummheit, die ich begangen habe? Kommt her zu mir, wo Stella stand, warum bleibt Ihr so fern?«
    »Der Arzt hat präzise Anweisungen gegeben.«
    »Nur ganz kurz, nur damit ich merke, daß Ihr mir nicht böse seid, obwohl Ihr allen Grund dazu hättet.«
    »Ich bin nicht böse, Joyce. Ihr hört doch, daß ich es nicht bin.«
    »Ja, das höre ich. Danke.«
    In dem schwachen Lichtschein wartete ich, daß sie weiterspräche, daß sie mir sagte, welcher Schmerz – und es mußte ein großer Schmerz sein – sie dazu getrieben hatte, sich das Leben nehmen zu wollen, doch sie schwieg. Ich erhob mich aus dem Sessel und sah sie an: Sie schlief. Ihr Atem ging beruhigend gleichmäßig und tief. Sollte ich die Nachttischlampe löschen oder nicht? Besser nicht. Licata hatte gesagt, daß sie zumindest diese Nacht nicht allein bleiben durfte: »Manchmal wird die Verzweiflung so übermächtig, daß sie sogar die Angst besiegt, dann denkt man, wie leicht und bequem der Tod doch ist, und man bekommt Lust, es noch einmal zu versuchen. Es sei denn, der Betroffene hat nach dem Aufwachen eine spontane Angstreaktion gezeigt dem gegenüber, was er getan hat.« Doch Joyce hatte keine Angst gezeigt. Nur Scham und Bedauern uns gegenüber.
    »Mody, hallo Mody? Soll ich kommen und bei ihr wachen?«
    »Nein, Stella. Du hast morgen viel zu tun. Im Sessel habe ich es sehr bequem, ich wäre beinahe eingeschlafen.«
    »Wie du willst, Mody, aber …«
    Mehr hörte ich nicht. Ich sank in den Schlaf. Jemand deckte mich warm und sicher zu, wie ich es vor Jahren oder Jahrhunderten – vielleicht vor meiner Geburt – gekannt und in der Hast des Lebens wieder vergessen hatte.
    Als ich die Augen aufschlage, wundere ich mich nicht darüber, wie gut ich im Sessel geschlafen habe oder wer die Decke über mich gebreitet hat, auch nicht über die wilde Freude, die mich erfaßt, als ich Joyces lächelndem Blick begegne. Dieses Lächeln gilt mir, denke ich. Und vor lauter Freude will ich von meinem Lager aufspringen und sie mit Küssen bedecken. Einen Moment lang hält mich das Bewußtsein meines reifen Körpers zurück, doch sie lächelt immer weiter. Und so vergesse ich meine Arme und Beine, die viel zu schnell gewachsen sind, stürze mich auf den schmalen Pfad, den das Lächeln mir weist, und bedecke sie mit wilden Küssen – so erzählte sie mir später – auf Augen, Stirn und Wangen. Sie läßt mich gewähren, lächelt immer noch mit den Augen, doch das genügt mir nicht. Ich möchte, daß sie glücklich ist, und

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