Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
sind.«
»Aber natürlich. Sie haben Ferien, und es ist ihr Fest. Stella weiß, daß sie tun dürfen, was sie wollen.«
»Dann gehe ich mal und beruhige sie, sie macht sich Sorgen.«
»Geh.«
»Wir sehen uns in der Bucht, wie, Mody? Es geht dir nicht mehr schlecht, oder?«
»Es geht mir bestens, Pietro. Bis gleich.«
66
Anstelle des leichten Voilekleides bedeckte nun ein seidener Schal Joyces Schultern und Arme. Unter dem weißen Stoff pulsierten die Male meiner Bisse. Modesta stellt sich auf die Zehenspitzen und küßt Joyce … küßt ihre vollen, brennenden Lippen, die in den Mundwinkeln in zwei kleine, weinende Kommata auslaufen.
»Du hast ja links und rechts ein Komma in den Mundwinkeln, Jò. Oder ist es eine Satzklammer?«
»Es sind Falten, Modesta.«
»Das ist nicht wahr! Es ist eine Klammer, die dem Satzgefüge deines Gesichts eine zusätzliche Bedeutung verleiht.«
»Welche Bedeutung denn?«
»Ich weiß nicht. Das versuche ich herauszufinden, aber ohne Erfolg.«
»Es ist nur eine Warnung der Zeit, daß ich bald alt sein werde.«
»Das ist nicht wahr, du wirst niemals alt.«
»Man kann die Zeit nicht anhalten.«
»Warum hast du keine Kinder, Jò? Oder hast du etwa welche und versteckst sie vor mir wie fast alles andere?«
»Was haben Kinder damit zu tun?«
»Daß wir, wie schon Shakespeare sagte, die Zeit zwar nicht anhalten können, sie aber in unseren Kindern fortführen, die der Welt im Guten wie im Bösen Zeugnis über uns ablegen.«
»Die Welt ist mir gleichgültig.«
»Oder bist du geizig wie die dunkle Dame aus den Sonetten oder der schöne Jüngling ihrer Träume? Bist du geizig, Jò? Manchmal habe ich fast den Eindruck.«
»Im Vergleich zu dir mag ich geizig wirken.«
»Wieso, wie bin ich denn?«
»Mein Vater, ein Gutsbesitzer im kargen Todi, hätte gesagt, verschwenderisch.«
»Das mir, der mir alle Geiz vorwerfen! Der arme Prando, wie mußte er sich für sein Motorrad abrackern … Wie schön Prando ist! Ich erkenne in ihm weder Carmine noch mich wieder. Aber trotzdem gefällt er mir nicht, er wirkt wie eine Statue. Hältst du ihn für intelligent? Er ist so verschlossen, daß ich manchmal glaube, er sei dumm.«
»Er ist nicht dumm, ein so leidenschaftlicher und zielstrebiger Junge kann nicht dumm sein.«
»Du hast recht. Es ist die Mutter in mir, die seine Intelligenz nicht anerkennen will, nur weil sie sich von ihrer eigenen unterscheidet. Aber Teufel noch eins, Mutter oder nicht, wer kann denn auch eine Intelligenz oder Leidenschaft – denn du hast ganz recht, Leidenschaft ist Intelligenz – für Motoren und Geschwindigkeit nachvollziehen?«
»Aber er erforscht sie richtiggehend, und er zeichnet Autos, unwahrscheinliche Autos zwar, aber immerhin …«
»Und liest ausschließlich Comics. Comics, Kino und Geschwindigkeit! Ich habe unrecht, stimmt’s? Deine Nähe tut mir so gut, Jò!«
»Ich hingegen fürchte, daß sie dir schadet.«
»Wie kommst du denn darauf? In diesen Jahren ist mir dank deiner Hilfe der Kopf aufgegangen, wie Mimmo gesagt hätte. Oder wie ’Ntoni es ausdrückt: ›Der Vorhang vor meinem Gehirn hat sich gehoben.‹ Wann hat er das bloß gesagt? Ach ja, als er nach Palermo ging, um Zacconi in ›Gespenster‹ zu sehen. Seitdem liest er nur noch Ibsen.«
»Wie sonderbar ’Ntoni ist! Und wie genial! Hast du gesehen, wieviel Gefühl in seinem Giufà steckte? Schade, daß Stella das nicht verstehen kann. Sie hört nicht auf zu weinen, seitdem ’Ntoni beschlossen hat, Komiker zu werden. Sie glaubt, alle Schauspieler seien Gesindel und Diebespack. Und auch du zweifelst an Prandos Intelligenz, nur weil er sie auf Motoren anstatt auf Bücher anwendet.«
»Du hast recht, Jò. Wunderschöne Jò! Was sitzen wir hier und reden über ’Ntoni? Ich habe Lust bekommen, ihn zu sehen, wer weiß, wen er gerade wieder imitiert. Los, komm!«
»Sieh nur, sieh, wie komisch er ist!«
»Er spielt ja Mussolini!«
»Ja, ja, hast du das noch nie gesehen? Die Rede über das Reich. Mit dieser Rolle hat er es in das Ensemble von Angelo Musco geschafft.«
»Ist Angelo Musco denn kein Faschist?«
»Nein, er läßt zwar zu, daß sie vor seinen Aufführungen den Königsmarsch und die faschistische Hymne spielen: ›Sonne, erstanden aus der Scheiße‹, wie er sagt.Und dabei, um weiter mit seinen Worten zu sprechen, ›beherrscht er sich‹… Nur so kann man in solchen Zeiten die eigene Haut retten.«
»Eine abscheuliche Haltung.«
»Sie mag abscheulich sein, aber
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