Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
Vom Netzwerk:
dieselbe Haltung vertreten auch Petrolini, Pirandello, Croce und wer weiß wer noch alles … Ach, Jò, du hast recht, aber jetzt laß mich ’Ntoni zuhören. Und abscheulich hin oder her, es ist mir lieber, im Publikum weiterhin einem Musco oder Pirandello lauschen zu können, als sie schweigend unter einem prachtvollen Alabastergrabstein zu wissen. Was tust du? Willst du schon wieder fliehen?«
    »Ich fliehe nicht, Modesta, ich …«
    »Was ist los?«
    »Ich halte das nicht aus! Dieser falsche Frieden, die Ausgelassenheit, die Scherze über Mussolini, während der Faschismus allerorten triumphiert.«
    »Was wäre dir denn lieber? Ein Haus in Trauer und die Kinder niedergeschlagen oder vielmehr vollauf damit beschäftigt, mit uns zu weinen? Warum waren wir, und damit meine ich uns: dich, mich, Jose, Carlo, warum waren wir nicht in der Lage, die Revolution durchzusetzen?«
    »Es ist schrecklich, selbst Rußland liebäugelt mit Mussolini. Vergessen wir Chamberlain, aber Stalin …«
    »Und? Hast du das erst heute abend entdeckt?«
    »Nein, nein. Aber Witze reißen, Feste feiern …«
    »Sie reißen keine Witze, Jò, sie machen ihn lächerlich! Das ist für die Jüngeren ein Mittel, den Mythos zu entthronen, eine Art Exorzismus, um sich nicht von ihm einfangen zu lassen, und gleichzeitig die Vorbereitung darauf, ihn eines Tages zu zertreten. Ein Tag, fürchte ich, den wir nicht mehr erleben werden. Und warum beleidigst du sie, Jò? Du weißt genau, daß sie alle, auchBambú, sich nicht damit begnügen, ihn lächerlich zu machen, sondern … Joyce, warte! Was ist denn los, was hast du?«
    »Laß mich, Modesta! Laß mich gehen, mir ist nicht gut.«
    »O nein!«
    »Du tust mir am Handgelenk weh.«
    »Ich werde dir das Handgelenk brechen, wenn du nicht aufhörst, davonzulaufen und zu schweigen.«
    »Laß mich los, man kann uns sehen.«
    »Und wenn schon? Du hast dich wie eine Mumie eingepackt wegen der paar Küsse.«
    »Modesta!«
    »Oh, es reicht! Ich hätte gute Lust, dir diese Schleife eines schamhaften Kätzchens vom Hals zu reißen und allen die Male meiner Küsse zu zeigen.«
    »Siehst du, daß ich recht habe?«
    »Was sehe ich? Womit hast du recht? Sprich! Wie soll ich sonst wissen, was du denkst?«
    »Ich glaube, daß hinter diesem Drängen, mich allen vorzuführen, der Wunsch steckt, eine Beziehung zu legalisieren, die niemals legalisiert werden kann.«
    »Aber zusammen mit anderen gelebt werden kann ohne diese Scham, die dich so verunstaltet. Was ist es, Scham oder Angst? Weg mit dem Halstuch! Alle sollen es wissen, oder besser noch, sie sollen gezwungen werden auszusprechen, was sie längst wissen.«
    »Aber deine Kinder, Modesta!«
    »Meine Kinder! Meine Kinder sind erwachsen, und es wäre eine Art, sie mit der Realität zu konfrontieren und zu sehen, ob sie diese Realität aushalten oder ob ich sie verliere.«
    »Du bist verrückt!«
    »Ich bin nicht verrückt, Jò, und ich würde es niemals tun, wenn du diese Scham nicht auch dann empfinden würdest, wenn wir alleine sind. Wenn du dich nicht immer schämen würdest, sogar vor dir selbst. Zuerst verstand ich nicht den Grund für die Tränen nach unseren Küssen und Zärtlichkeiten. Dieses Weinen, das ewige Ausweichen, dein Fliehen vor mir, all das hat aus meinem Leben eine Achterbahnfahrt der Angst gemacht. Aber jetzt weiß ich es: Du selbst fühlst dich schuldig in unserer Beziehung, und kaum hast du bekommen, was du brauchst, läufst du vor mir davon, als sei mein Gesicht das Symbol deiner Schuld. Du selbst bist es, die, ganz bewußt – und das macht es noch schlimmer – unsere Beziehung legalisieren möchte. In einer Nacht hast du dich verraten, mit diesem: ›Wärst du doch nur ein Mann!‹«
    »Hör auf, Modesta, hör auf!«
    »Wärst du doch nur ein Mann! Geh schon, geh weinen auf dein Zimmer. Ich muß lachen bei dem Gedanken, daß du ein Mann wärst oder daß Beatrice ein Mann gewesen wäre. Ich liebe dich, weil du eine Frau bist, und ich liebe dich als Frau. Was stehst du jetzt da? Ich habe dein Handgelenk losgelassen, oder? Geh! Ich möchte ’Ntoni zuhören oder wenigstens zu Abend essen, Teufel noch eins!«
    »Aber für mich ist es das erste Mal, Modesta, das erste …«
    »Das erste Mal, daß was? Ich verstehe dich nicht.«
    »Das erste Mal, daß … ich eine intime Beziehung zu einer Frau habe.«
    Wilder Applaus steigt aus der Bucht auf. Der Duce hat seine Siegesrede beendet, und mit zum Faschistengruß erhobenem Arm dreht er sich langsam um die

Weitere Kostenlose Bücher