Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
Achse seines stählernen Rückens. Wie auf den Bildern der Wochenschau geht der letzte Satz seiner Rede unter in dem austausend und abertausend hysterischen Kehlen aufsteigenden Begeisterungssturm … Diese Kinder, selbst die Massen ziehen sie ins Lächerliche. Oder ist dies nur eine Vorübung – ein weiterer Sieg der »Ruten der Partei« –, um selbst auf die Straße zu gehen und endlich ihren Durst zu stillen, wie alle zu sein, mit ihnen zu lachen oder zu weinen und nicht immer anders und allein sein zu müssen?
»Es ist hart! Ich kann Cesare einfach nicht hassen, obwohl er mit den anderen avanguardisti 10 in den Zug nach Rom gestiegen ist, um Mussolini zuzujubeln. Aber er ist arm, und die Reise war kostenlos.«
In den Städten und Dörfern wachsen Heere von Kindern mit den Namen Italo, Benito, Edda oder Romana auf. Neue Heilige nehmen die Plätze Rosalias, Agates und Giuseppes ein. Manch ein übriggebliebener »Libero« bittet mit dem Personalausweis in der Hand darum, »Ardito« heißen zu dürfen, sich vom freien Menschen in einen heldenhaften Kämpfer zu verwandeln …
Joyce bindet sich das Halstuch wieder um. Was hat sie gesagt? Der prasselnde Applaus hat ihre letzten Worte verschluckt.
»Wie hast du unsere Liebe genannt, Jò? Habe ich da etwas wie ›intime Beziehung‹ gehört, oder irre ich mich?«
»Es ist das erste Mal für mich, Modesta.«
»Was heißt das? Wenn man liebt, ist es immer das erste Mal.«
»Oh, Modesta, laß mich, es geht mir schlecht.«
»Ich halte dich nicht, du bist frei.«
»Aber du fragst!«
»Mich selbst, Jò, achte nicht darauf.«
»Du bist bleich wie der Tod.«
»Für mich ist es das erste Mal, daß ich in unserer Beziehung, wie du es nennst, unglücklich bin.«
»Wie das! Gerade noch hast du gesagt, wegen mir sei dein Leben eine Achterbahn der Angst gewesen.«
»Das Seil der Liebe zittert immer straff gespannt zwischen dem Baum der Sorge und dem Baum der Angst. Wie das Leben birgt sie in sich die ständige Erinnerung an den Tod, den es zu besiegen gilt, und nicht diese Leere dir gegenüber, die mich nun ergriffen hat. Hilf mir, Joyce!«
»Aber wie, Kleines, wie?«
»Nenn mich nicht Kleines. Früher rührte es mich, doch jetzt, wo ich verstanden habe, demütigt mich deine Röte nur noch.«
»Oh, Modesta, was kann ich tun, wenn ich mich doch schäme? Ich schäme mich sogar, auf der Welt zu sein, zu leben. Warum wurde ich nur geboren, warum?«
»Sollte dir nicht der Gedanke genügen, daß du auf der Welt bist, um mich zu bereichern, um mir die Freude zu schenken, dich in den Armen zu halten? Du antwortest nicht? Mir hat er in diesen Jahren der Gefangenschaft genügt.«
»Dann empfindest also auch du sie als Jahre der Gefangenschaft!«
»Wie könnte ich anders? Jedoch immer in dem Bewußtsein, daß die wahren Gefängnisse andere sind: Sie reißen Menschen wie uns zu Hunderten hinab in ihre dunklen Gedärme.«
»Komm mit mir nach oben, Modesta.«
»Nein! Ich beginne jetzt, dich zu verstehen. Du willst, daß ich oben mit dir weine, um der Ausgelassenheit der Kinder etwas entgegenzusetzen. Du strebst nach der wahren Zelle, aber ich habe Hunger! Und die Stille, dienun herrscht, bedeutet, daß Bambolina mit heller Stimme alle zu Tisch gerufen hat. Ich sehe sie vor mir! Wie ihre Mutter, mit erhobenem Zeigefinger, die schmale Taille bebt … Sie hinkt nicht wie Beatrice, doch ihre Bewegungen haben die gleiche Anmut. Siehst du, wie sie mit Gaslampen alles hell erleuchtet hat? Und über die Kisten hat sie ganz sicher die bestickten Leinendecken gebreitet, die sie so liebt und die das Silberbesteck und die Kristallgläser erst richtig zur Geltung bringen. Ich mache mir nichts aus dem Prunk, wohl aber aus dem fröhlichen Lichterglanz, der die Dunkelheit erhellt, die Verdunklung unserer Jahre. Und ich habe Hunger! Entschuldige, Joyce, aber Beatrice wird böse, wenn man zu spät zum Essen kommt, und zu Recht. Das Fest kann erst richtig beginnen, wenn alle Stühle besetzt sind.«
Bambú: »Was für eine Freude, Tante, dich mit so gutem Appetit essen zu sehen. Ist Joyce nicht hier? Hat sie wieder ihre Kopfschmerzen? Prando, warum gehst du nicht nachsehen, ob sie etwas braucht?«
Prando: »Komm schon, mein schönes Cousinchen. So schön, daß ich dir verspreche – vorausgesetzt, du kommst nicht auf den Hund wie Teresa, die in deinem Alter ein ätherisches Wesen war und jetzt dick und plump ist wie ein Sack Mehl –, ich verspreche dir also, daß ich dich heirate, wenn dich
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