Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
ändern. Ich bitte dich!«
»Sie könnte es tun.«
»Wir sind Genossinnen und können es ruhig sagen, Mody: An welcher Stelle siehst du die Welt verändert? In Rußland haben sie alles aufgegeben, was für unsere individuelle Freiheit zählte. Nach nur wenigen Jahren haben sie die freie Liebe vergessen und sind auf direktem Weg zur Ehe zurückgekehrt. Und wenn’s nur das wäre!«
»Du gefällst mir, wenn du so redest, Nina.«
»Ich mir aber nicht! Ich habe es satt, korrekt zu reden und Bücher voller Träumereien zu lesen. Du sagst das so dahin, aber mir haben die kommunistischen Genossen in Spanien den Mann meines Lebens ermordet!«
»Bist du sicher?«
»Todsicher, Augenzeugen. Du weißt selbst, daß sie imentscheidenden Moment alle Anarchisten eliminiert haben, und nicht nur sie.«
»Ihr wart mit eurem Traum zu weit voraus, Nina, die Anarchie ist das Ziel und nicht …«
»Ja, zu weit voraus! Und wann wollen wir endlich mal einen Schritt nach vorn machen, hm, meine nichtsnutzige kleine principessa 15 ? Und euer Gramsci? Ihr habt ihn verurteilt! Arminio hat ihn gesehen, mein Bruder, oh! Immer allein in der Zelle, und im Hof von den Genossen geschnitten und verachtet. Und die Helfershelfer hatten freie Hand.«
»Und dann?«
»Antonio litt unter Schlaflosigkeit, und die Wärter haben immer gegen die Gitter geschlagen, um ihn zu wekken. Im Gefängnis bist du verloren, wenn die Genossen dich verlassen. ›Sie‹ haben ihn getötet!«
»Aber Arminio wußte diese Dinge und hat dennoch weitergekämpft wie du, scheint mir.«
»Vielen Dank! Bleib nur immer schön auf der Seite der rechten Idee! Mach doch mal die Augen auf, bring mich nicht auf die Palme, Mody!«
Nina ist fürchterlich, wenn sie in Rage gerät, in ihren Augen entzünden sich gelbe Lichter, und ihre tiefe Stimme hallt wie in einer Höhle.
»Ich will mich nicht aufregen, Mody, wegen dieser alten Geschichten. Erzähl mir von ’Ntoni, deinen Beschreibungen nach gefällt mir der Junge, hast du Neuigkeiten von ihm?«
»Nein, nur daß er am Tag meiner Verhaftung geflohen ist.«
»In Rom gab es viele Festnahmen, das habe ich gesternim Hafen gehört, bei einem Schiff, das Wasser ablud, sie sprachen von Rom.«
»Und was erzählten sie?«
»Daß es in Rom nur noch Frauen, Kinder und Alte gibt und daß auf den Straßen Hungers gestorben wird …«
83
Auf seinen aufgedunsenen weißen Beinen schleppt ’Ntoni sich durch Roms Straßen, angerempelt von gleichgültigen Alten und Frauen. Er ist nur einer unter vielen Verdammten: Das Fleisch quillt auf vom Wasser, und die Haut wird dünn und weiß, immer weißer, bis man Hungers stirbt.
»Was ist, Kätzchen, warum schreist du? Mach die Augen auf, ich bin’s, Nina, wach auf!«
»Ich habe schlecht geträumt, Nina … Der Bauch tut mir weh.«
»Das ist nichts, Kätzchen, du hast Hunger.«
»Du hast recht, auf dieser Mist-Insel gibt es einfach nichts mehr!«
»Überall wird bombardiert, Mody.«
»Sie haben uns vergessen. Hast du gestern diese aufgedunsenen weißen Kinder gesehen?«
»Wie oft habe ich dir gesagt, daß du sie nicht anschauen darfst!«
»Du hast recht. Es ist nur – woher, Carmine, woher hätte ich das damals wissen sollen? –, ich mache mir Sorgen um meine Kinder. Ich habe geträumt, daß ’Ntoni in Rom verhungert.«
»Ich hätte dir nicht von Rom erzählen sollen. Dumme Nina! Aber ’Ntoni ist stark, hast du gesagt.«
»Ja.«
»Dann sorgst du dich also um Jacopo?«
»Nein, gestern noch kam ein Brief von ihm, zum Glück haben sie bei ihm Tuberkulose diagnostiziert.«
»Verdammt, jetzt freut man sich schon über einen Sohn mit Tuberkulose!«
»Es ist nicht schlimm und allemal besser, als im Krieg zu sein wie Prando.«
»Verdammt!«
»Prando ist stark. Ist dir aufgefallen, was für glühende Briefe er von der Front schreibt? Dieses patriotische Feuerwerk bedeutet in unserer Geheimsprache, daß sie alles tun, um die Niederlage voranzutreiben.«
»Die Niederlage des eigenen Landes herbeisehnen!«
»Nur so kann der Faschismus fallen, sagt Prando. Aber er ist anders, Jacopo wäre gestorben, Nina, ganz sicher gestorben.«
»Nicht weinen, Kätzchen.«
»Das kommt vom Hunger.«
»Eben. Jetzt ißt du ein Stück Katze, und wenn ich dir den Mund mit dem Messer öffnen muß. Nina hat sie in Salzlake eingelegt: Das ist Luxusfleisch, andere essen Ratten …«
»O nein, Nina, nein!«
»Glaubst du etwa, mir macht das Spaß? Es war wahrscheinlich die letzte auf der Insel. Hier wird
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