Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
kann, der die Zitronen verkauft? Er hat weder Nase noch Lippen, und anstelle der Augen klaffen zwei Löcher, als hätten die Insekten sie ihm ausgefressen.«
»Nur er, Mody? Ich habe ein gutes Dutzend von ihnen gezählt und dann aufgehört. Wahrscheinlich ist es Lepra, auch wenn keiner es beim Namen nennt. Aber egal, erzähl mir von euch zu Hause.«
Seht ihr? Sosehr ich versuche, Ninas und eure Neugierde zu befriedigen, kann ich mich nicht von meiner Gegenwart lösen. Aber da ihr nun einmal durch NinasAugen weiter fragen werdet, versuche ich, es euch zu erzählen. Bambú ist euch ans Herz gewachsen, wie? Aber natürlich, hübsche, liebenswürdige und kapriziöse Mädchen ziehen immer das Interesse auf sich. Und Mela? Die Künstlerin regt die Phantasie an, auch Ninas Phantasie. Gut, ich habe keine andere Wahl, Nina wartet, den Blick endlich aufgehellt vor Neugierde.
»Ach was, Bambolina heiratet deinen Mattia? Und tut dir das leid?«
»Als sie sich mir in jener Nacht erklärte, hundert Jahre scheint das her zu sein, tat es einen Moment lang weh, aber dann, während ich auf die Morgenröte wartete, begriff ich, daß ich nicht litt, weil ich Mattia verlor, sondern weil ich mich ihr unterlegen fühlte und alt: vierzig Jahre!«
»Daß du vierzig bist …«
»Heute zweiundvierzig, Nina.«
»Das glaube ich nicht einmal, wenn du es mir schriftlich gibst.«
»In jener Nacht allerdings sah man sie mir an, jedes einzelne Jahr. Denn das Konzept von Jugend und Alter ist reine Hypothese.«
»Was soll denn das bedeuten?«
»Es bedeutet, daß du so alt bist, wie du sein willst, wie du selbst überzeugst bist, zu sein.«
»Meinst du? Aber die Natur spielt auch eine Rolle.«
»Sicher, auch die Arbeit, die Armut, die Entbehrungen, sie alle lassen dich vorzeitig altern. Aber für den, der wie ich das Privileg hat, sich schonen zu können, ist das Alter nichts als ein Konzept, das einem wie viele andere aufgezwängt wurde.«
»Du gefällst mir, Mody, mir gefällt, wie du keinen Hehl aus deinen Privilegien machst.«
»Das ist die erste Pflicht jener, finde ich, die so denken wie wir.«
»Aber erzähl mir von jener Nacht.«
»Das habe ich schon getan: Ich tappte in die Falle des Gemeinplatzes. Oh, sosehr du dich wehrst, bleibt es doch schwierig, gegen die Regeln der Gesellschaft aufzubegehren, die besagen: Mit zehn Jahren bist du so, mit zwanzig so, mit vierzig und Kindern bist du alt … Ich schäme mich, aber in jener Nacht drohte ich den Widerstand aufzugeben, ich war kurz davor, mich den Schafen anzuschließen, die durch die Welt wandern. Aber nur kurz, ja! Noch vor Morgengrauen hatte ich es durchschaut, und wenn ich nicht festgenommen worden wäre, wäre ich weggegangen, um nach Neuem zu suchen. Die Welt ist groß, hat Carmine immer gesagt.«
»Denkst du immer noch an deinen Alten?«
»Nur wenn es mir hilft.«
»Und wann heiraten sie?«
»Nein, sie heiraten nicht. Ich sagte das nur, um es dir verständlich zu machen. Sie sind zusammen, und alles läuft gut, scheinbar auch im Bett. Hier kannst du lesen: ›Und keine Sorgen, Tante, auch wenn zwischen mir und Mattia alles gut ist, werde ich doch niemals eine von jenen legalen … werden, von denen unser Freund spricht.‹«
»Was bedeuten die Auslassungspünktchen, Mody?«
»Huren. Sie hat es nicht geschrieben, aus Angst vor der Zensur.«
»Und wer ist dieser Freund?«
»August Bebel … Es geht noch weiter: ›Ich kenne ihn gut und habe anders als Mela nicht nur so getan, als würde ich ihn lesen. Und heute weiß ich, daß Papa recht hatte, als er sagte, die Worte unseres Freundes werden dieneue Bibel der Frauen von morgen sein. Doch jetzt genug von diesen ernsten Dingen. Ich möchte dir beschreiben, wie wunderschön die Villa geworden ist mit all den Zimmern voller Leben. Auch Pietro und Crispina sind wegen der Bombenangriffe bei uns. Catania ist eine Hölle.‹ Und so ist Carmelo wieder in den Händen der Brandiforti, wie Beatrice es sich erhofft hatte.«
»Und Mela, und Crispina?«
»Crispina hat jetzt einen richtigen Lehrer, und Mela feiert Erfolge über Erfolge. In Amerika geht das Leben weiter.«
»Immer noch mit ihrer Ippolita?«
»Immer noch. Da verstehe einer die Natur! Ich glaube, sie wird immer nur Frauen lieben, während sie der Presse die Jungfrau vorspielt, die nur für ihre Musik lebt. Vielleicht wird sie sich irgendwann zur Tarnung einen Ehemann nehmen … zumindest solange die Welt sich nicht ändert.«
»Ja, morgen wird die Welt sich
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