Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
gab wie die, die Jacopo mit fünf oder sechs Jahren malte … Warum ist Nina stehengeblieben? Und warum sind auf den sonst so einsamen, leeren Straßen plötzlich all die Menschen und stoßen und schubsen? Und warum ist ein Mann auf das Gesims geklettert und reißt nun Steine aus der Mauer und schleudert sie uns entgegen?
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»Das war nicht gegen uns gerichtet, Kätzchen, sie haben die Büste Mussolinis heruntergeholt, und wie glücklich sie waren! Aber als du, wie vom Blitz getroffen, umgekippt bist, ganz wie im Lichtspieltheater, war mir klar, verdammt noch mal, da war Nina gleich klar, daß es ernst ist! Aber nun bist du ja außer Gefahr, und das ist das wichtigste.«
»Welche Gefahr? Und warum ist es so dunkel?«
»Weil deine Augen noch empfindlich sind. Ist nicht weiter schlimm, nur wegen des Fiebers und der Schwäche.«
»Das kommt vom Hunger, stimmt’s, Nina?«
»Schön wär’s! Du hattest Typhus, Kätzchen, und was für einen! Kannst du dich denn an nichts erinnern? Ich hatte vielleicht eine Angst um dich! Jeden Moment dachte ich, du würdest mir in den Armen wegsterben.«
»Nina? Ich habe dich noch nie weinen sehen.«
»Zum Teufel mit mir! Jetzt bringst du mich auch noch zum Heulen mit deinen abgemagerten Rippen und den winzigen Händchen, die aussehen wie die von meiner Olimpia, als sie Diphtherie hatte.«
»Olimpia! Hast du Neuigkeiten von deiner Tochter?«
»Sie ist hier bei uns … Du erinnerst dich wirklich an nichts?«
»Ich weiß nur noch, daß ich dir nachging und es warm war …«
Im Halbdunkel starre ich Ninas Gesicht an und versuche mich zu erinnern. Wenn sie wenigstens Licht machen würde …
»Wozu Licht, Kätzchen? Es ist noch Tag, ich mache mal lieber ein Fenster auf.«
Um das Fenster zu öffnen, muß Nina eine Flut weißen Tülls beiseite schieben wie der Schleier der Novizinnen, wenn sie das Gelübde ablegen. Das duftige Weiß bereitet mir Übelkeit. Wer weiß, warum Beatrice dieses Todessymbol tragen wollte und warum Carlo sich nicht dagegen gewehrt hat? »Gegen Beatrice kommt niemand an, du kennst sie ja, Modesta.«
Glücklich löst sie sich von den Vorhängen und tritt zu dem großen, mit vergoldeten Weinblättern umrankten Spiegel. Wer kommt schon gegen Cavallina an? So sehr hat sie sich diesen Spiegel gewünscht, daß wir ihn anfertigen lassen mußten, und nun sitzt sie wie jeden Morgen davor und bürstet ihr Haar.
»Es ist schön hier, mein Kätzchen, schöner, als du es mir beschrieben hast. Ja, ja, ihr reichen Leute! Entweder wißt ihr selbst nicht, was ihr besitzt, oder ihr wollt uns veräppeln: Landhaus, Hütte, das ist ein Palast, verdammt!«
Nina kämmt sich die rotgold glänzenden Haare, liegt das vielleicht an der Sonne?
»Aber nein, deine Bambú hat mir Henna besorgt! Ach, es stimmt nicht, daß alles Natürliche gut ist, manchmal muß man der Natur ein wenig nachhelfen.«
Sie hat recht, die weiche goldene Masse nimmt ihren etwas plebejischen Zügen, wie Großmutter Gaia gesagt hätte, die Strenge und verleiht Ninas Gesicht »so etwas herzergreifend Sanftes«, nicht wahr, Carlo?
»Ein bißchen Mond, ein bißchen Meer und die Musik im Herzen … Nur so vergess’ ich meine Schmerzen …«
Nina singt ein neues Lied.
»Ach ja, weißt du, daß ich deinen berühmten Jose kennengelernt habe?«
»Wo denn das?«
»Hier, er ist mit den Amerikanern an Land gegangen. Er hat uns Penizillin besorgt und ist dann sofort wieder abgereist. Wer hätte das gedacht, ein Italiener in amerikanischer Uniform, der gegen sein eigenes Land kämpft! Er läßt dich vielmals grüßen. Ein toller Mann! Deine Nina war mindestens zwei Tage in ihn verliebt, und nicht nur aus Schwärmerei, wie mein Vater sagen würde. Die Wahrheit ist, daß er eben ein richtiger Mann ist!«
»Jeder verliebt sich in Jose.«
»Sieh an, du etwa auch?«
»Nein, ich nicht.«
»Und warum nicht?«
»Weil ich sicher war, daß ich ihn nicht wiedersehenwürde. Ich werde ihn nie wiedersehen. Dafür muß ich Timur treffen.«
»Hör endlich mit diesem Timur auf, bei jedem deutschen Helm, dem wir begegnet sind, hast du behauptet, er sei es.«
»Ja, das ist auch das einzige, woran ich mich erinnern kann: kleine, gesichtslose Helme und glänzende Metallplaketten auf der Brust. Hundert, zweihundert, vielleicht tausend Helme und Plaketten mit immer demselben grausamen Emblem.«
»Dabei sind wir nur wenigen begegnet, Kätzchen! ›Nur das Allernötigste an Deutschen‹, hat dein Jacopo gesagt.«
Eine warme Woge
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