Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
weiter, dort oben gibt es Bäume und Schatten.«
Im Schatten streckt Nina sich aus und senkt die Lider. Nun weiß ich, daß ich mich neben sie legen und meinenKopf auf ihre Brust betten darf. Ihr großer Brustkorb spürt mein Gewicht kaum, und ich kann reisen, wie damals, vom Schoß zum Hals ohne ihren tiefen, gleichmäßigen Atem zu stören. Wie kann Carmine nur weiterschlafen, während ich kreuz und quer über seinen Körper wandere?
»Du bist leicht wie eine Feder, figghia ! Kann ein großes Tier wie ich überhaupt das Gewicht eines Kätzchens spüren?«
»Du bist kein Tier, du bist eine prächtige Säule! Ich habe mal eine auf der anderen Seite der Insel gesehen, sie liegen ausgestreckt im Gras und schlafen in der Sonne.«
Es ist nicht Carmine, der mit marmorner Hand sein Miezchen streichelt. Sagte er Miezchen oder Kätzchen wie die Stimme, die es nun wiederholt?
»Was tut mein freches Kätzchen, schläft es, oder heckt es einen Streich aus?«
»Und du, was tust du mit geschlossenen Augen?«
»Ich versuche der Müdigkeit Herr zu werden, die mich gepackt hat. Vor lauter Sehnsucht, den Himmel zu sehen, kann ich ihn jetzt, wo ich ihn vor mir habe, nicht erkennen, nicht spüren, wie soll ich sagen, kann ihn nicht genießen. Tja, vier Jahre in der Zelle sind vier Jahre. Ich bin die Luft nicht gewohnt, und die Augen tun mir weh. Wenn ich dich nicht getroffen hätte, wäre ich wahrscheinlich während des Wartens auf meinen Prozeß in diesem Gefängnis verfault. Scheiße, ich hatte die Hoffnung auf eine Verurteilung schon aufgegeben. Scheint ein Witz zu sein, oh, einen Prozeß herbeizusehnen wie eine Preisverleihung? Dann kommst du, und alles klärt sich: Verbannung, Bücher für dich, Tinte und Papier …«
»Und für dich Wolle und Häkelnadel.«
»Und in kürzester Zeit der Prozeß. Es ging alles soschnell, wie im Lichtspieltheater, ich bin jetzt noch ganz durcheinander. O Mody, gib auf die Zeit acht! Bei Sonnenuntergang müssen wir zurück sein. Ich habe keine Lust, diesen Himmel wegen eines Spaziergangs zu verlieren.«
»Es ist erlaubt, Nina, sei ganz ruhig. Im Gefängnis warst du so stark!«
»Ja, ich muß mich erst daran gewöhnen …«
»Und dich beschäftigen.«
»Das stimmt auch. Du schreibst, unterrichtest, was schreibst du denn?«
»Dummes Zeug, Nina, nur so zum Zeitvertreib.«
»Und verdienst Geld! Gibst du heute keinen Unterricht?«
»Nein, zumindest einen Tag in der Woche möchte ich frei sein.«
»Du Witzbold! Auf einer Insel, die gerade mal eine Hand breit ist, will sie frei sein! Oh, aber mich freut’s, denn allein weiß ich nicht, was ich mit mir anfangen soll.«
»Du mußt dir eine Beschäftigung suchen.«
»Darüber wollte ich sowieso mit dir reden, gestern auf dem Markt wurden mehr schlecht als recht zusammengehäkelte Baskenmützen angeboten, in blau und rot. Das würde ich allemal hinbekommen…«
»Genau das habe ich dir doch gesagt.«
»Ich will es probieren!«
»Du könntest auch Babydecken häkeln, hier auf der Insel wird doch ein Kind nach dem anderen geboren.«
»Und es wird gestorben, kein Tag, an dem man keinem Trauerzug begegnet. Das muß an den vielen Steinen und dem Wassermangel liegen. Ich will es wirklich versuchen! Gestern hat eine Alte für zwei kleine Mützen einen Liter Wasser nach Hause getragen. Ich muß es einfach versuchen.Und du bist sicher, daß sie uns von euch zu Hause Wolle schicken könnten? Und … was ist bei dir zu Hause los? Dauernd bekommst du Briefe, aber du erzählst nichts. Einer von Ninas Fehlern ist, daß sie neugierig ist, sehr neugierig.«
»Du kannst sie lesen.«
»O nein, das nicht! Mein Vater sagte immer, das gehört sich nicht, das ist nicht ›im Sinne des Erfinders‹.«
»Wenn du willst, erzähle ich es dir.«
»Wird aber auch Zeit!«
Nina ist so neugierig wie ihr, die ihr dies lest. Entschuldigt, aber es ist nun einmal so, daß ihr in euren Häusern lest, vielleicht in Zeiten des Friedens, und ich lebe in Kriegszeiten. Während ich hier rede, durchziehen Bataillone eiserner Vögel den Himmel, Tag und Nacht, ohne dieses Fleckchen Erde mitten im Meer zu beachten. Wo wird ihr tödlicher Atem niedergehen? Sicherlich über lohnenderen Orten voller Menschen und Leben.
»Deshalb lassen sie uns links liegen, Nina. Ihr metallener Hunger giert nach jungem, gesundem Fleisch und nicht nach diesen paar Zentimetern Erde voll abgemagerter Leiber mit erloschenen Blicken. O Nina, hast du den Mann gesehen, wenn man ihn überhaupt so nennen
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