Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
alles verzehrt, wie in Rußland nach der Revolution, alles, selbst die Ratten. Angelica hat mir das erzählt, als ich noch klein war. Aber zum Teufel mit Angelica und ihrer Revolution! Jetzt müssen wir dich mal ein bißchen vorantreiben. Nach Monaten mit Wurzeln und ein paar Linsen, Mody, hast du einen Teint à la Traviata angenommen, der mir überhaupt nicht gefällt! Magst du die ›Traviata‹? Ich war geradezuverrückt nach Verdi. Als mein Vater in Rom sein Geschäft aufmachte, brauchte er nur zu sagen: ›In Rom gibt es eine Oper‹, und mein Kummer, Civitavecchia verlassen zu müssen – ich war ja noch klein –, war von einer auf die andere Sekunde wie weggeblasen. Und er hielt sein Versprechen. Jeden Sonntagnachmittag dort oben in der Loge, mit all den alten Schachteln, die in ihren Partituren blätterten und leise mitsummten, sagte er mir: ›Schau hin, meine Kleine, um die Revolution voranzutreiben, muß man seine Phantasie anregen, wo es nur geht.‹ Ein großer Anarchist, Ottavio! Wenn Nicola herumschrie, der sein Cousin und ein blutrünstiger Leninist war, flüsterte er ganz leise, um ihn zum Schweigen zu bringen: ›Es ist nicht deine Schuld, Nicola, du hast einfach nicht genug Phantasie! Wir sind uns einig, daß mit der Wirtschaft alles steht und fällt, aber die wahre Revolution muß man erfinden!‹ Und jetzt zu uns, Mody, und zu unserer Katze! Lauf nicht weg, hätte ich dir etwa eine Lüge auftischen sollen? Und wie hätte ich das tun sollen? Schließlich hast du ja Augen im Kopf. Sie haben alles aufgegessen, und ich kann es ihnen nicht verübeln. Die Vögel sind verschwunden … wegen der Bombardements, meinst du? Na gut … Los, ein Stückchen, das ist reine Medizin! Erinnerst du dich an das verkläpperte Ei? Das war vielleicht gut, Scheiße noch mal! Wer hätte gedacht, daß wir uns noch einmal nach dem Geschmack eines Eies im Gefängnis sehnen würden, was, Mody? Wenn du nicht so ein entsetztes Gesicht machen würdest, müßte ich glatt lachen. Du bist zu komisch! Schluck schon runter, oder du erstickst noch daran! Hast du wenigstens gekaut? O Mama, sie erstickt! Entschuldige, wenn ich lache, meine Kleine, aber mir ist da gerade ein Gedanke gekommen. Könnte es sein, daß wir bei den derzeitigen Verhältnissen vielleicht irgendwannselbst diesem Tierchen hier noch hinterhertrauern werden?«
»Nichts, Nina? Hast du keine Mütze verkaufen können?«
»Und du, haben dir diese Halunken denn etwas mitgebracht? Aber deinen Unterricht hören sie sich trotzdem gerne an.«
»Die Armen können sich selbst kaum auf den Beinen halten. Aber es gibt mir Kraft, wenn ich sehe, wie groß ihr Interesse trotz des Hungers ist. Sie saugen alles auf, als wäre es Likör. Im Kloster träumte ich immer, ich sei Lehrerin, zuerst wegen Schwester Leonoras Pult und ihrem Stock … Jacopo war mit fünf Jahren Papst.«
»Donnerwetter! Der geht aber ran, dein Jacopo.«
»Es ist das Alter, da haben sie soviel Energie und wissen nicht, wohin damit. Man muß sie nur lassen, und mit der Zeit haben sie sich ausgetobt und verstehen, daß die Träume wie ein zweites Leben sind. Jacopo träumte danach tatsächlich immer davon, Seeräuber zu werden.«
»Ich hingegen wollte immer Opernsängerin sein.«
»Du hast ja auch eine wunderbare Stimme.«
»Ja, aber je länger ich diese dicken, großen Damen sah, desto widerlicher wurden sie mir. Ich wollte schlank sein.«
»Dann kannst du dich ja freuen, da sind wir hier genau richtig.«
»Sehr witzig! Aber sehe ich da nicht ein Säckchen?«
»Nur die übliche Handvoll Linsen. Außerdem haben wir kein Wasser.«
»Deshalb rücken die kleinen Gauner wohl auch damit heraus.«
»Das stimmt nicht.«
»Natürlich stimmt es nicht, es war nur so dahingesagt.«
»Wie gut sie verstehen, wenn man klar mit ihnen redet. Früher dachte ich immer, meine Kinder seien so aufgeweckt, weil ich sie so erzogen habe. Aber ich sehe, daß das nicht stimmt. Alle, bis auf diesen Mazzella, der wirklich minderbemittelt ist, verstehen mich, und das hilft sehr.«
»Sie verstehen sogar zuviel. Der Pfarrer hat sich schon beklagt. Nicht, daß sie uns auf eine noch schlimmere Insel versetzen, es geht immer noch schlimmer!«
»Ich habe keine Angst mehr, Nina. Dort draußen ist die Hölle los, Prando hatte recht, und die haben Besseres zu tun, als sich um uns zu kümmern … Jedenfalls: Ich wollte Lehrerin werden.«
»Das hast du mir schon erzählt, meine Kleine, der Hunger tut dir nicht gut.«
»Wenn du
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