Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
sterben! Du bist schön und gut wie Mama, ich möchte dir nicht weh tun, wie ich ihr weh getan habe. Sie ist gestorben, weil ich sie innerlich abgelehnt habe … Ich hatte sie verurteilt, ausgelöscht. Ich bin wie mein Vater, Mama hatte recht, wie mein Vater zerstöre ich das, was ich am meisten liebe.«
»’Ntoni, ’Ntoni …«
Eine Sekunde lang bin ich versucht, nach vorne zu treten und die Wahrheit zu sagen. Doch mein Wissen ist reine Theorie, und diese jungen Leute müssen ihr Leben selbst entdecken, am eigenen Leib, mit ihrer eigenen Sprache. Und wie Blinde, die zu sehen versuchen, umarmen sie sich jetzt, befühlen einander schweigend.
Leise, damit sie mich nicht hören, verlasse ich den Raum.
87
Auf dem langen Rückweg über endlose Flure, Treppenfluchten und Abgänge zittere ich vor Sorge, Jacopo in diesem anderen Krieg zu verlieren, den er seit Jahren gegen ein sanftes, von Locken umrahmtes Gesicht führt; er hat Inès mit keinem Wort erwähnt, nicht nach ihr gefragt. Erst als ich den Salon betrete, in dem es mittlerweile geschäftig brummt wie im Zuschauerraum eines Theaters – dasselbe Gemurmel, dieselben vereinzelten Stimmen, hin und wieder der silberne Ton eines Instrumentes, jemand stimmt eine Gitarre, eine Mandoline –,erst als ich Jacopo noch an derselben Stelle stehen sehe, nun nicht mehr in Prandos, sondern in Ninas Armen, legt sich meine Sorge. Und das Staunen über die kurze Zeitspanne zwischen dem Frieden, den seine Rückkehr mir gebracht hat, und dem Krieg, der in ’Ntoni ausgebrochen ist und unsichtbar vielleicht auch hinter Jacopos entspanntem Lächeln lauert, verschwindet mit den ersten Tönen der Mandoline, bei denen auch Prando lauschend den Kopf zurücklegt. Bei jedem kleineren oder größeren Ereignis verlangt Prando nach Musik, und sein besänftigter Blick schweift in die Ferne. Unter meinem Pony pulsiert die Wunde angesichts der Schönheit dieses ganz der Musik ergebenen Kopfes, des großen Kopfes eines erwachsenen Mannes. Ich kann nicht stillhalten, ich kehre lieber zu ’Ntoni zurück. Doch kaum wende ich mich zum Gehen, umfaßt Prando meine Hüften.
»Wohin entflieht meine Mädchen-Mama? Immer flieht sie, immer hat sie irgendwelche Heimlichkeiten! Oder liegt es daran, daß du mich trotz deiner Mutterpflichten, die du brav erfüllst, einfach nicht sehen magst?«
Gewaltsam zwingt er mich dazu, mich umzudrehen. Als ich seinem nun wieder kühnen, aufreizenden Blick begegne, begreife ich, daß nichts daran zu ändern ist, daß es immer so sein wird: Er liebt mich, wie ich ihn liebe. Wie könnte es auch anders sein? Die Liebe zwischen Mutter und Sohn ist das letzte romantische Melodram, eben darum, weil sie niemals endet.
»Es hilft dir nicht, zu fliehen, Mädchen, denn durch deine Flucht liebe ich dich nur noch mehr. An der Front haben mich alle verspottet. Oh, nicht, daß ich viel von dir geredet hätte, aber sie merkten es trotzdem und machten sich darüber lustig. Respektvoll natürlich … Und weißt du, was ich erwidert habe? ›Lacht nur, ihr Söhne häßlicherMütter!‹ Und dann sagten sie allerlei Dummheiten, weil sie nicht minder in ihre Mütter verliebt waren. Seht ihr, wie meine Mädchen-Mama es macht? Kaum rede ich mit ihr, wendet sie den Blick ab. Ma unni vai? Bleib hier, ccà vicinu a mia hai a stari : Du bist meine Mutter und meine Goldmine! Los, Pippo, spiel die Hofserenade, vielleicht kann das den Edelstein zum Schmelzen bringen, den sie anstelle eines Herzens in der Brust trägt.«
Woher hatte Prando diese lang vergessene Art zu reden? Hatte er Carmines Stimme denn jemals gehört?
»O Pippo! Sie trommelt auf meine Brust wie ein furchtsames Täubchen.«
»Du tust mir weh, Prando! Laß mich los, ich bekomme keine Luft.«
»Weißt du, daß ich dich mit der Kraft meiner Arme in Stücke brechen könnte? Aber wo fände ich bei Bedarf einen Klebstoff, um diesen feinen Biskuithals wieder anzukleben? Wenn ich diesen Kleber nur finden könnte! Wie gerne würde ich dich zerreißen, um dich danach genußvoll Stück für Stück wieder zusammenzusetzen. Woher nehmen? Ich muß in der Civita suchen, diesem Niemandsland. Es wird behauptet, dort könne man alles finden, alles erstehen: von feinster Seide bis zum Totenwachs, vom hundertkarätigen Gold bis zu den schärfsten Messern, vom gesichtslosen Killer, der dir für ein paar Lire den Widersacher tötet, von den Samtenen mit duftendem Haar bis zu ganz frischen Leichen, wenn du Lust hast, auf eigene Faust anatomische
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