Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
niemandem sagen. Siehst du dieses Gefäß dort auf dem Kamin? Darin ist seine Asche aufbewahrt. Komm, was stehst du da wie angewurzelt herum? Er war wirklich nicht böse, Modesta, auch wenn …«
Endlich hatte ich einen anderen Ketzer gefunden. Diese Bücher, die mir aus dem Halbdunkel zuzwinkerten, zogen mich mehr an als Beatrices sprudelnde und schmeichelnde Stimme. Wenn sie nicht dagewesen wäre, hätte ich sofort eins dieser Bücher in die Hand genommen, mindestes eins … Aber jetzt zog sie mich weg, und ich mußte vorsichtig sein. Ich ließ mich von ihrer warmen Hand die Treppen hinunter in das letzte Zimmer rechts führen, das zum Teich hinausging. Dieses Zimmer war so anders, daß ich nicht wagte einzutreten. Fenster, die die gesamte Wand vom Boden bis zur Decke einnahmen,ließen das Licht und die Bäume bis an lange weiße Holztische herankommen, mit merkwürdigen Lampen, die wie dünne Schlangen mit großem, zurückgebogenem Kopf aussahen. Außer den Tischen waren entlang der einzigen fensterlosen Wand nur Regale angebracht. Vor den Regalen ein Feldbett mit einer graugrünen Decke und einem Kissen, frisch bezogen wie in Erwartung …
»Ja, hier hat er geschlafen. Hier ist es schön, nicht wahr? Aber es war noch schöner, als Ignazio gelebt hat. Schade, daß du ihn nicht kennengelernt hast. Er ist, genau einen Tag bevor du gekommen bist, gestorben. Warum ich keine Trauer trage? Maman will es nicht. Sie sagt, ihr Bruder Jacopo habe zumindest darin recht gehabt. Onkel Jacopo hat immer gesagt, daß es unmenschlich sei, Trauer zu tragen … daß man, wenn man wirklich trauert, die Trauer im Herzen trägt und sie nicht unnötig zur Schau stellen muß. Und ich trauere wirklich. Komm, schau mal, wie schön Ignazio war. Hier hat er seine liebsten Sachen aufbewahrt. Sieh nur: ein Ticket der Londoner underground … Das hier ist ein Billett für die Oper in Paris, eine Postkarte aus Weimar. Er hat in London und in Deutschland studiert … Und hier ist eine Fotografie von ihm in Zivil: Die auf seinem Arm, das bin ich, als ich klein war. Aber komm hierher, schau dir die Fotografie in Uniform über dem Feldbett an. Darauf ist er noch schöner, nicht wahr? Die ist aufgenommen worden, als er zur Luftwaffe ging. Weißt du, er hat sogar Flugzeuge entworfen. Er hat immer gesagt, daß die Zukunft der Welt einmal am Himmel auf diesen Flügeln entschieden wird. Sieh nur, das sind seine Zeichnungen. Er hat immer gearbeitet, auch nachts, unter diesen großen Lampen. Auch die Fenster hat er vergrößern lassen. Früher hat er viel Licht gebraucht. Später wollte er dann nicht mehr hinausschauenund hat diese dunklen Vorhänge anbringen lassen. Ich habe sie aufgezogen, als er gestorben ist, weil ich ihn schön und gesund in Erinnerung behalten will. Auch diese Regale sind voll von seinen Entwürfen und Berechnungen. Diese ganzen Fotografien von Flugzeugen erstaunen dich, nicht wahr? Die dort über dem Feldbett, auf der er selbst zu sehen ist, habe ich aufgehängt, danach … Er wollte nur Flugzeuge an den Wänden. Daran hat es gelegen, sagt Maman, daß er niemanden geliebt hat, nur seine Höllenmaschinen. Aber das stimmt nicht, mich hatte er gern. Nach dem Unglück wollte er nur noch mich sehen. Er ist bereits drei Monate nach Kriegsbeginn verwundet worden. Ein Jahr lang war er dann an dieses Feldbett gefesselt. Er hatte sich damals freiwillig gemeldet. Er hat immer gesagt, daß die Flugzeuge den Krieg sofort entscheiden würden, aber statt dessen … Dieser Krieg hört gar nicht mehr auf. Warum hört er bloß nicht mehr auf? … Jeden Nachmittag bin ich zu ihm gegangen, und er ist auf seinem Feldbett immer dünner und blasser geworden und hat mir vom Krieg erzählt, von den Sozialisten, von einem gewissen Mussolini, den er sehr bewunderte, weil der, wie er sagte, an die Jugend glaubt und nicht an diese Alten im Parlament, die so tun, als würden sie sich um Italien bemühen und es statt dessen mit Gräben durchziehen. Er hat Italien sehr geliebt. Er hat immer geraucht, und wenn er schwieg, hat er Rauchringe geblasen … wie es Männer eben tun. Aber natürlich hast du mit solchen Dingen keine Erfahrung. Weißt du, ich merke, daß du, wenn ich von Männern spreche, wie abwesend wirkst, und vielleicht dürfte ich dir gar nicht von ihnen erzählen. Aber trotzdem ist es schade, daß du ihn nicht kennengelernt hast.«
Von der Schönheit dieses Ignazio geblendet, der vonder Fotografie auf mich herabschaute, hörte ich meine Stimme
Weitere Kostenlose Bücher