Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
erzählt, daß sie, wenn eines ihrer Tierchen starb und Eier zurückließ,diese selbst ausbrütete. Man hat mir auch erzählt, daß es ihr mehr als einmal gelungen sei, ein Küken schlüpfen zu lassen. Vielleicht hat sich das auch nur irgendwer ausgedacht … Ich weiß es nicht, ich erzähle dir nur, was man mir gesagt hat. Aber jetzt komm, es reicht mit der Familie. Ich habe große Lust, mit dir zusammen Klavier zu spielen. Ich weiß, daß du besser bist als ich, aber ich hinke gern neben dir her. Und außerdem, sagt Maman, ist mein Anschlag viel besser geworden, seit ich mit dir zusammen spiele.«
Schon bald würden ihre kleinen Hände neben mir herhinken, wie sie es ausdrückte. Diese zitternden, unsicheren Klänge füllten meine Brust mit einer nie gekannten Zärtlichkeit und waren mir gar nicht lästig. Und außerdem würde ich sie, wenn wir vierhändig Klavier spielten, mindestens ein oder zwei Stunden lang neben mir spüren.
24
»Heute vormittag bringe ich dich in den anderen Flügel der Villa. Auf, komm. Aber was hast du denn? Hast du geweint? Deine Augen sind ganz gerötet. Ich wette, daß du wegen Tante Leonora geweint hast; das will ich nicht! Ich will das nicht, komm mit …«
Die Erinnerung an dieses gemeinsame Spiel voller Zärtlichkeit hatte mich kein Auge schließen lassen: die vielen Läufe, die Clementi-Sonatinen – meine Finger zitterten genauso unsicher wie die ihren –, ihr schlingernder Gang über die leeren Korridore, die goldene Flut ihrer Haare, die vor jedem Fenster im Licht erstrahlten … Cavallina war gefährlich. Diese schweigsame Alte, die sich in irgendeinem Zimmer eingeschlossen hatte, beobachteteuns. Quecksilber hatte recht, sie begriff alles. Außerdem war sie die Schwester von Madre Leonora. Das durfte ich nie vergessen.
»So, das ist das Zimmer von Onkel Jacopo, schließ einen Moment lang die Augen, damit du dich an das Halbdunkel gewöhnst. ›Nur bei Sonnenuntergang ist dieses bösartige Licht erträglich‹, hat er immer zu mir gesagt. Und bei anderen Gelegenheiten hat er gescherzt: ›Wann löschst du endlich die Sonne, diese merde ?‹ Er hat immer merde gesagt, vielleicht, weil er in Paris studiert hat und Republikaner war. Onkel Jacopo war Mamans Lieblingsbruder, nur haben sie sich immer gestritten, und zwar, weil er auch ein Ketzer war. Hier in diesem Zimmer stehen lauter skandalöse Bücher. Es ist verboten, sie zu lesen. Ich bin immer sehr neugierig darauf gewesen, habe es aber nie gewagt, eins herauszunehmen, auch wenn der Schlüssel dort in der Vase liegt, wo er ihn aufbewahrt hat … Aber was hast du denn, daß du so blaß wirst? Weil er ein Ketzer war? Ja, ich weiß, sie sind gegen Gott und lesen all diese Bücher gegen Gott, aber er war ein guter Mensch, glaub mir. Oder ist es das Skelett, das dir Angst macht, und all diese komischen Dinge? Auch ich fürchtete mich davor, als ich klein war. Aber wenn ich ihn dann reden hörte, war die Angst wie weggeblasen. Wenn du wüßtest, was für eine sanfte Stimme er hatte! Ich bin immer hierhergekommen, um ihm mit seinen Sammlungen von Schmetterlingen, Muscheln und Mineralien zu helfen. In diesen Gläsern hielt er lebendige Sachen. Ich weiß nicht genau, warum … Er hat Versuche gemacht. Er hat viele Bücher geschrieben und in Frankreich und Rom veröffentlicht. Maman sagt, daß man nichts von dem begreift, was da drinsteht. Er war Arzt und auch Chemiker, weißt du? Diese komplizierten Sachen … Ich hatte ihnsehr gern, auch wenn er Gott und die Priester verfluchte. Und außerdem hat er mir einen großen Gefallen getan. Er hat so lange herumgeschrien, bis er Maman überzeugt hatte, daß ich nicht mehr sticken muß. Das war immer eine Quälerei für mich. Er hat gesagt, daß Frauen beim Sticken verblöden. Nur einmal habe ich ihn dazu gebracht, mir zu erklären, warum er nicht an Gott glaubt. Er sagte, daß Gott eine zu einfache, oder nein, vielleicht sagte er auch, eine zu bequeme Erklärung für die Schönheit und das Geheimnis der Schmetterlinge sei. Er sagte außerdem, daß das Schöne und das Häßliche eigentlich eins seien, daß man beides nicht voneinander trennen könne, daß … Warte mal, wie hat er sich ausgedrückt? Ach ja, daß das Schöne aus dem Häßlichen hervorgeht und das Häßliche aus dem Schönen und so weiter. Es ist sehr kompliziert. Wenn er so geredet hat, war es schwer, ihn zu verstehen … Und aus all diesen Gründen wollte er sich nach seinem Tod verbrennen lassen, aber das darfst du ja
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