Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
sagen:
»Leider …«
Entsetzt schaute ich Beatrice an, aber sie war so von ihrem Ignazio eingenommen, daß sie nichts begriffen hatte.
»Ja, leider, denn so stirbt die Familie aus. Er war nämlich der letzte männliche Erbe, der jüngste der Brandiforti. Und wenn er, wie die Mama immer sagt, nicht der Politik verfallen wäre, und da hat sie recht … Denn was interessiert uns Sizilianer dieser Krieg, den der italienische König zu seinem Nutzen führt? Darin waren sich die Mama und Onkel Jacopo einig. Aber an der Universität dort oben in Rom hat Ignazio Feuer gefangen und sich dann freiwillig an die Front gemeldet. Nach nur drei Monaten ist er abgestürzt. Aber das habe ich dir ja schon erzählt, entschuldige. Ich hatte ihn eben so gern. Ich habe ihm immer vorgelesen, er wollte nur mich um sich haben. Manchmal war er erschöpft, dann hat er den Kopf zur Wand gedreht, und ich habe aufgehört zu lesen. Einmal wollte ich gerade aufstehen, um zu gehen, da hat er gesagt: ›Nein, bleib hier, mein Kleines. Ich bin nur müde, aber es ist schön für mich zu wissen, daß du hier bist, natürlich nur, wenn es dich nicht langweilt.‹ Mich langweilen! Ich habe gelebt für diese Nachmittagsstunden, die ich bei ihm verbringen durfte. Nach einer Weile, vielleicht einer halben Stunde oder zwanzig Minuten, hat er sich mir wieder zugewandt, und ich habe weitergelesen. Ich war glücklich mit ihm …«
Bei dem Wort glücklich, vielleicht weil sie lächelte, hüllte mich ihr plötzliches verzweifeltes Weinen in schwarze Nacht. Um uns herum war alles dunkel. Oder war die Sonne untergegangen? Wie lange habe ich ihrerStimme gelauscht? In der Dunkelheit folge ich ihrem Schluchzen und umarme sie. Sie zittert am ganzen Leib. Ich spüre ihr seidenes Haar am Hals und an der Wange und beginne zu meiner Verwunderung, sie zu wiegen und ein Lied zu singen, von dem ich gar nicht wußte, daß ich es kannte:
»Schlaf, Beatrice, schlaf, oh, oh,
Schlaf, sonst gibt’s was auf den Po.«
Und als ich merkte, daß zwischen dem Schluchzen und den Tränen langsam ein kleines Lachen aufstieg, wiegte ich sie weiter, die Hände um diese Taille gelegt, die mir zarter und kostbarer erschien als alles, was ich mir je hätte erträumen können.
25
»Schlaf, mein Kindchen, schlaf, oh, oh. Wer nicht schläft, kriegt’s auf den Po. Schlaf, mein Kindchen, schlaf, oh, oh.«
Beatrices Fähigkeit, blitzschnell vom Lachen zum Weinen zu wechseln, nahm mir den Atem. Jetzt lachte sie, zusammengekauert auf meinem Schoß.
»Weißt du, warum ich lache?«
»Woher soll ich das wissen?«
»Weil du dasselbe Wiegenlied singst, das mir meine Tata immer vorgesungen hat.«
»Deine Tata?«
»Ja, die Amme, die Kinderfrau. Auf dem Festland sagt man Tata, und deshalb mußte auch ich sie so nennen. Das erschien ihnen eleganter, aber meine Tata war Sizilianerin, und ich weiß, daß in diesem Wiegenlied ein schlimmes Wort vorkommt.«
»Dann versteht Ihr also Sizilianisch.«
»Natürlich. Wenn ich mit der Tata allein war, haben wir immer Sizilianisch gesprochen. Ich mag es sehr, aber hier im Haus ist es verboten: Französisch, Englisch, Italienisch, aber kein Sizilianisch. Wieviel sie mir erzählt hat! Sie hat immer Sizilianisch gesprochen, genauer gesagt Palermitanisch. Sie war aus Palermo und sehr stolz darauf. Catania hat sie gehaßt: Die catanisi sind falsch, hat sie immer gesagt. Und ich habe mir einen Spaß daraus gemacht, sie damit aufzuziehen. Dann wurde sie wütend, aber danach haben wir uns lachend wieder vertragen. Das waren schöne Zeiten, Modesta, dort in Catania! Das Haus war immer voll. Damals haben alle noch gelebt, und dieser schreckliche Krieg war noch nicht ausgebrochen. Nur den Sommer haben wir in der Villa verbracht, aber auch hier war das Haus immer voll. Ignazios Freunde, du kannst dir nicht vorstellen, wie viele er gehabt hat! Sie waren alle noch so jung, und wenn sie gekommen sind, um ihn zu besuchen, haben sie sich in seinem Zimmer eingeschlossen und laut geredet, weißt du, wie es Männer eben tun. Ich habe dann immer hinter der Tür gestanden, nicht, um sie zu belauschen, sondern weil ich es schön fand, ihre Stimmen zu hören und den Tabakduft zu riechen, der durch die Ritzen zog. Oft sind sie zum Abendessen oder zum Tee mit ihren Schwestern gekommen … Dann, 1915, sind die ersten fortgegangen. Alle haben immer gesagt, daß der Krieg nur sechs Monate dauern würde, da man ich weiß nicht was für außerordentliche Waffen habe, die … von
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