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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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und folgte uns mit ihren Blicken, schwieg aber. Und diese Stille machte mir mehr Angst als das Geschrei zuvor. Auch ich mußte meine Lippen fest verschließen und zuhören, Beatrice zuhören. Vielleicht würde ich, wenn ich ihrer Stimme folgte, genau wie Dante den Weg aus diesem Wald aus Seide, Marmor, Lächeln und Gold finden. Und sie schien wirklich die Beatrice von Doré zu sein, als sie die Arme hob, wie über einem Abgrund schwankend vor Anstrengung, gerade zu stehen, um mir ein geschlossenes Fenster im obersten Stockwerk zu zeigen.
    »Du hast sicher schon bemerkt, daß es immer geschlossen bleibt? Dort wohnt das ›Ding‹, wie die Mama es nennt.«
    Oder sie flog plötzlich leicht die Treppe hinauf, verschwand einen Moment hinter der Biegung eines Korridors, um gleich wieder aufzutauchen und mich mit ihrer kleinen und schnellen Hand – dem Flügel eines Vogels? – aufzufordern, ihr zu folgen.
    »Siehst du, das sind alles Porträts unserer Vorfahren. Die Mama hat sie weit weg verbannt, sie haßt sie. Untenim Salon hängen, wie du gesehen hast, nur Landschaften, Madonnen und Kreuzigungen. Hier sind wir im Kreise der Familie … Aber mir gefallen sie! Es sind alle da, außer der Großmutter. Die wollten sie hier nicht haben, weil sie eine Bürgerliche war, aber ich habe alles darangesetzt, daß man sie mir in mein Zimmer bringt. Ich zeige sie dir später. Sie ist zu Pferde porträtiert … Und jetzt, wo ich dir beinahe alle vorgestellt habe, komm, damit ich dich zu Ildebrando führen kann.«
    Ich trat in ein kleines, aufgeräumtes Zimmer mit nur wenigen Möbeln, das aber voller Spielsachen, Eisenbahnen und Dampfschiffe war. Auf einem Tisch stand ein großes Haus aus Bauklötzen, das beinahe wie gemauert aussah. Ich schaute mich um, sah aber nur einen Rollstuhl. Ich wollte eigentlich schweigen, konnte es aber nicht lassen zu fragen:
    »Ist er draußen?«
    »Nein, er ist tot. Es ist nur so, daß dem Testament meines Vaters, des Fürsten, zufolge alle Zimmer so bleiben müssen, wie sie sind, damit diejenigen, die fortgegangen sind, wiederkommen können, wenn sie wollen. Auch sein eigenes Zimmer dort oben ist unberührt geblieben. Manchmal ist mir, als könnte ich seinen Tabak riechen. Er hat Pfeife geraucht. Hier dagegen riecht es nach gar nichts, vielleicht, weil ich ihn nicht kennengelernt habe, wer weiß? Er war Mamans älterer Bruder und ist mit zehn oder zwölf Jahren gestorben, lange bevor ich geboren wurde. Nach dem, was sie mir erzählt haben, hat er so etwas wie Gelenkrheumatismus gehabt und … dann die Schwindsucht und, was weiß ich, das Herz, glaube ich, und so ist er von uns gegangen … Wenn du ihn besser kennenlernen willst, dort ist eine Fotografie von ihm. Sieh nur, was für ein schönes Gesicht er hat, er sieht auswie eine Frau, nicht wahr? Aber der Körper … Komm, komm, wir gehen zu Tante Adelaide.«
    Inzwischen wußte ich, daß hinter der Tür, die Beatrice aufriß, keiner war, und hoffte, ich würde nicht mehr so staunen. Das Staunen ist ein Feind der Vorsicht. Aber das Gezwitscher von Hunderten von Vögeln, das mir bei meinem Eintritt entgegenschlug, ließ mich zur Salzsäule erstarren, wie Tuzzu immer sagte.
    »Schau nur, wie wunderbar! Die Käfige hat sie sich aus Paris kommen lassen; sie sehen aus wie kleine Kathedralen, nicht wahr? Sie wollte, daß sich ihre Vögel so fühlen wie in Freiheit.«
    »Hat sie denn hier geschlafen? Bei all dem Lärm?«
    »Ja, in dem Bett dort hinten. Außerdem gehen die Vögel abends ja auch schlafen. Siehst du diese Vorhänge um die Käfige herum? Abends zieht Quecksilber sie zu, und dann schlafen sie. Als die Tante lebte, hat sie das selbst gemacht. Sie hat nur für ihre Vögel gelebt. Damals waren es noch viel mehr, aber seit Adelaide gestorben ist, sind auch sie nach und nach eingegangen. Sie hatte nicht nur Vögel, sondern auch Enten und Katzen. Und die Tauben oben im Taubenschlag. Um die kümmert sich jetzt der Sohn des Gärtners. Irgendwann nehme ich dich mit dorthin. Als sie noch gelebt hat, bin ich gern zu ihr gegangen, aber sie wollte niemanden sehen, nicht einmal mich. Vielleicht, weil ich sie an Tante Leonora erinnerte. Anscheinend wollte sie von dem Tag an, an dem Leonora ins Kloster ging, niemanden mehr sehen. Sie hat meinen Vater gehaßt und immer gesagt, es sei seine Schuld gewesen. Sie hat mit allen gestritten und sich nur noch um ihre Gottesgeschöpfchen, wie sie sie nannte, gekümmert. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber man hat mir

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