Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
schweigsamen Alten lernte. Sie hatte recht.
»Was mich am meisten schmerzte, war nicht, die Wahrheit zu kennen, die ich schon mehr oder weniger erraten hatte, sondern …«
»Was?«
»Nun ja, als Leonora schwanger wurde, so sagt jedenfalls die Großmutter, hätte sie, ohne ein großes Drama daraus zu machen, mich entweder vor der Geburt sterben lassen können – und das wäre besser für mich gewesen – und dann trotzdem heiraten, oder sie hätte mich behalten und für ihre Schwester ausgeben können. Wasfür eine Tragödie, verstehst du? Auch die Milazzo, die weder so reich noch adlig sind wie wir, haben eine Tochter, die als die Jüngste ausgegeben wird, aber eigentlich die Tochter der Ältesten ist.«
»Und warum hat sie das nicht gewollt?«
»Wer weiß das schon. Sie hat gesagt, daß es dieselbe Schuld sei, ob sie mich nun sterben oder leben läßt, und hat sich für das Kloster entschieden. Was weiß ich? Vielleicht verstehst du das; sie fühlte sich berufen.«
»Und was ist mit Carmine, wieso ist der noch hier?«
»Er ist Witwer und hat nicht wieder geheiratet.«
»Was hat das denn damit zu tun?«
»Ich frage mich, wieso er nicht wieder geheiratet hat. Die Großmutter hat vor drei Jahren so sehr darauf bestanden, daß er Agata zur Frau nimmt …«
»Das meine ich nicht, ich meine, wieso …«
»Was, wieso?«
»Wenn Carmine eine Brandiforti in Schwierigkeiten gebracht hat, wieso haben dein Großvater und deine Onkel nicht …«
»Wie kommst du denn darauf? Wir sind adlig, und er ist nur ein Bauer. Du denkst doch nicht etwa, daß sich einer der Unseren die Hände an einem gemeinen Bauern schmutzig macht. Natürlich, wenn er auf unserem Niveau gewesen wäre, ein Offizier oder ein reicher Bürgerlicher, aber ein Bauer, ein Duell mit einem Bauern – niemals!«
»Aber man hat ihn auch nicht weggejagt oder …«
»Weggejagt? Wo denkst du hin! Der Großvater hat ihn sehr geschätzt und immer gesagt: ›Eine Tochter zu verlieren, die nicht nur eine Frau, sondern obendrein auch noch dumm ist, ist eine Sache, aber einen Verwalter vom Schlage Carmines! Ohne die Tochter hat man wenigerÄrger und spart die Mitgift, aber ohne einen Verwalter wie Carmine, wer kümmert sich da um die Ländereien?‹ Denk nur! Er hat alles unter sich, und die Männer, die für ihn die Güter bewachen, hat er mit der Flinte dressiert, sie sind ihm ergeben wie Hunde. Mir macht er Angst.«
»Aber er ist doch dein Vater.«
»Ach was, Vater! Wie die Tata immer gesagt hat, er ist ein Bauer mit lehmigen Füßen. Ich habe ihm nie ins Gesicht gesehen. Ich mag ihn nicht und habe Angst vor ihm. Mir ist kalt. Alles hier macht mir Angst. Sieh nur, wie sich der Himmel zugezogen hat. Es regnet, Modesta, das ist das Zeichen, daß du bald fort mußt.«
»Laß uns wieder hineingehen, du zitterst ja am ganzen Leib, ich will nicht, daß du krank wirst.«
»Wenn ich nur krank würde, dann müßtest du wenigstens …«
»Komm, Beatrice, ich bin für deine Gesundheit verantwortlich.«
Ich versuchte sie fortzuziehen, aber sie rührte sich nicht von der Stelle. Ich hätte nie gedacht, daß sie so stark war, es gelang mir nicht, sie auch nur zu einem einzigen Schritt zu bewegen. Und ich hätte es auch nicht geschafft, wenn ein Windstoß sie nicht aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Ich packte sie gerade noch rechtzeitig bei der Taille, um dem zweiten Windstoß standzuhalten, der uns von hinten traf. Tropfen, so groß wie Kieselsteine, schlugen uns ins Gesicht und ließen die weiße Fassade der Villa erzittern. Beatrice flüsterte:
»Mein Gott, der Regen, das ist das Zeichen. Siehst du? Sie haben alle Fensterläden geschlossen. Alle … Mein Gott! Modesta, sieh nur, sieh nur! … Der Wind hat das Fenster dort oben im zweiten Stock aufgestoßen! Mein Gott, wie schrecklich, ich habe es noch nie offen gesehen!«
Das war nicht der Wind, zwei Arme langten hinaus, so als wollten sie das Fensterbrett überwinden und sich herunterstürzen.
»Aber das ist ja Pietro, Modesta! Das ist Pietro, der schreit, was ist denn passiert?«
»Schau nicht hin!«
Ich drückte ihren Kopf an meine Schulter, damit sie nicht das viele Blut sah, das über Pietros Gesicht rann. Nur seine Hände und die Arme waren zu erkennen.
»Warum hast du mich nicht schauen lassen? Was ist denn, Modesta? Du siehst aus wie ein Gespenst.«
»Laß gut sein, Beatrice. Geh und trockne dich ab, und suche Quecksilber, damit sie nach dem Arzt schickt, schnell.«
»Nach dem Arzt? Wo gehst
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