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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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du hin, Modesta, nein!«
    Ich löste ihre Hände, die mich am Rock festhielten, und stürzte zur Treppe. Ich mußte nur meine Tür finden und von dort bis ins oberste Stockwerk hinaufsteigen. Ich kannte den Weg, den Pietro ging. Jeden Morgen hatte ich diesen bleiernen Schritt verfolgt … Da war der Flur … Es mußte eine von diesen Türen sein. Ich rannte durch den langen Korridor, ähnlich dem meinen, als eine Tür am Ende aufflog und Pietro langsam und blutüberströmt heraustrat.
    »Vorsicht, mein Fräulein. Geht wieder hinunter. Ich habe ihn unter Kontrolle. Geht wieder hinunter und ruft den Arzt. Das hier ist kein Platz für Euch!«
    Er war ruhig, mußte aber große Schmerzen haben, denn er brach auf einer Bank zusammen. Seine Stimme klang bedrohlich. Vielleicht hatte er recht, aber ich wollte die Wahrheit wissen. Und mit angehaltenem Atem, um die Angst zu überwinden, betrat ich das Zimmer und sah »das Ding«, wie es mit gefesselten Händen in einemSessel um sich schlug und sich auf die Lippen biß, zwischen denen der Speichel hervorlief. Dieses »Ding« war nichts weiter als ein plumper, fetter Mann mit einem runden Kopf, der Tinas Augen auf mich richtete. Ich trat einen Schritt zurück, und zum ersten Mal fragte ich mich, ob die Toten nicht vielleicht doch wiederkehrten. Bei meinem Anblick hörte die männliche Tina auf, um sich zu schlagen und zu knurren, und starrte mich mit offenem Mund an, so als würde sie mich wiedererkennen.
    Von der Ähnlichkeit fasziniert, hatte ich meine Beine nicht mehr unter Kontrolle, die mich steif zu ihm trugen. Er erwartete mich mit verzaubertem Blick. Erst als ich ihm so nah war, daß ich ihn beinahe berühren konnte, überzeugte ich mich davon, daß es nicht Tina war, und um meine Furcht zu überwinden, lächelte ich, wobei ich mir wiederholte: Schau ihn dir gut an, das ist ein Mann. Nur daß er wahrscheinlich dieselbe Krankheit hat wie Tina. Tina war ja kein Ungeheuer oder ein »Ding« gewesen, sondern einfach nur krank. Der Arzt im Kloster hatte es mir gesagt: Mongolismus. Ich lächle, und um sicherzugehen, daß er nicht Tina ist, rufe ich ihn leise: Ippolito, Ippolito! Der verzieht das Gesicht zu einer Grimasse, was bei ihm wohl ein Lächeln sein soll, und beginnt mich mit seinen gebundenen Händen am Rock zu zupfen, aber vorsichtig und beinahe zärtlich. Das ist nicht Tina.
    »Das ist ja ein Wunder! Ein Wunder!«
    Pietro starrte mich begeistert an, während er sich das Blut abwischte.
    »Ihr hättet das nicht tun dürfen, aber es ist ein Wunder! Fürst Ippolito hat das noch nie bei irgendwem gemacht … nur bei mir zweimal in zehn Jahren. Mein Fräulein, Ihr seid eine Heilige. Sieh mal einer an, er hat sichberuhigt, ein Wunder! Und das ohne Tabletten und Spritzen. Er hat Euch gesehen und sich beruhigt.«
    Das war es, was mich von der Berufung befreien würde: dieses Wunder. Aber um es ganz zu vollbringen, mußte ich hierbleiben, damit alle davon erfuhren und mich sahen.
    »Habt Ihr gesehen, Pietro, daß nichts passiert? Geht und versorgt Eure Wunden, sonst verblutet Ihr noch. Geht nur, und wenn Ihr ganz beruhigt sein wollt, schickt jemanden, der aber draußen bleiben soll. Mir passiert hier gewiß nichts. Die Madonna hat mich hergeführt. Ich werde über dieses Geschöpf Gottes wachen.«
    Und ohne Furcht, von Jesus berührt, wie die anderen später sagten, streckte ich die Hand aus und legte sie auf seinen Kopf. Wieso sollte ich Angst haben, die ich mit so einem »Ding« aufgewachsen war? Er hatte sogar mehr Haare als Tina. Ich fing an, ihn zu streicheln, und er senkte den Kopf und jauchzte, so wie Tina das bei der Mama immer getan hatte. Er hatte keine andere Möglichkeit, mir zu zeigen, daß ich ihm gefiel.
    In weniger als einer Viertelstunde hatte sich die Neuigkeit in der ganzen Villa verbreitet. Sie liefen herbei, ich hörte sie hinter der Tür, auf dem Flur, wie sie beteten. Auch Beatrice war da. Jetzt durfte ich nicht lockerlassen, der Sieg mußte vollkommen sein. Ich löste ihm die Fesseln, und er schaute mich aus seinen schwarzen, feuchten Hundeaugen gutmütig an. Nachdem ich ihm die Fesseln abgenommen hatte, kniete ich vor ihm nieder und starrte ihn meinerseits an. Daraufhin senkte er den Blick auf meinen Kittel und fing schüchtern an, ihn zu streicheln. Allmählich verstand ich: Das »Ding« hatte immer nur Pietro, den Arzt und vielleicht noch den Priester gesehen. Wahrscheinlich erstaunten und entwaffnetenihn meine Gestalt, die sanfte Stimme – ich

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