Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
natürlich. Also, da ich, wie gesagt, nicht will, daß mich irgend jemand so sieht, wirst du ab sofort im Nachbarzimmer wohnen und dich um mich kümmern. Aber kein Wort darüber. Auch nicht nach meinem Tod. Ich möchte nicht, daß man mich bemitleidet – weder im Leben noch im Tod. Jetzt geh, hol deine Sachen und deine Bücher, und komm sofort wieder zurück. Ich brauche dich hier, denn wenn ich einen Anfall bekomme, mußt du sofort zum Arzt laufen. Aber erst, nachdem du mir diese Pillen gegeben hast, und wenn du mir dazu den Mund mit der Zange aufzwingen mußt.«
In den zwanzig Tagen, die wir gemeinsam verbrachten, nahm meine Bewunderung weiter zu. Keine Klage, weder wenn ein Anfall kam, noch wenn sie sich erschöpft ausruhte oder mit mir sprach. Sie sprach über alles, aber vor allem über Poesie. Sie fragte mich, welcher Dichter mir gefalle, jetzt, da ich auch etwas von Lyrik verstünde, und bat mich, ihr vorzulesen. Je mehr ich sie bewunderte, um so mehr lauerte ich auf ihren Tod. Auch weil meine Taille inzwischen, obwohl ich das Mieder enger schnürte, anschwoll und sie meine Hüften trotz ihrer Krankheit voller Mißtrauen musterte.
»Wie bist du nur so dick geworden, Mody? Nicht, daß du mir einen Streich spielst? Ich habe dir gesagt, daß ich keine Kinder von diesem ›Ding‹ haben will. Sag mir Bescheid, wenn das der Fall sein sollte, mit einem guten Arzt ist es in den ersten Monaten eine Kleinigkeit, es loszuwerden.«
»Keine Sorge, Fürstin, es ist nichts. Ich habe nur in letzter Zeit zuviel gegessen.«
»Dann iß weniger. So gefällst du mir nicht. Du verlierst deine Anmut, und deine bäuerliche Herkunft zeigt sich in diesen Pausbacken.«
Sie mußte sterben. Mein verrückter Lebenswille gegen ihren verrückten Willen zum Tod.
»Ach, Mody, der Brief dort auf dem Nachttisch ist für Don Carmine. Sollte mich etwas Endgültiges ereilen, muß er ihn sofort bekommen. Verstanden?«
Sie mußte sterben. Ich hatte zu lange gewartet. Und beim nächsten Anfall blieb ich hinter der Tür, statt ihr die Pillen zu geben und zum Arzt zu laufen, wie ich es immer getan hatte, und wartete, bis auch das letzte Röcheln im Zimmer verklungen war. Dann trat ich ein. Sahen die aufgerissenen Augen mich an? Nein, sie starrten auf die Tür. Ich wandte den Blick ab, deshalb war ich nicht hier. Nachdem ich ihr die Augen geschlossen hatte, nahm ich den Brief und las ihn. Es war kein neues Testament. In dem Brief hatte sie Carmine geschrieben, daß sich ihr Letzter Wille an dem ihm bekannten Ort befinde, und so weiter und so weiter.
Mit dem Brief in der Hand rannte ich, um das Testament zu holen, und versteckte die beiden Dokumente in einer großen chinesischen Vase am Fuß der Haupttreppe. Später würde ich sie verbrennen. Jetzt mußte ich zum Arzt laufen. Zehn, fünfzehn Minuten konnten unbemerkt durchgehen, aber mehr hätte selbst die Gutgläubigkeit dieses kurzsichtigen Alten mit den feinen, zerzausten Haaren eines Kindes überstrapaziert.
37
Das Testament war nicht aufzufinden. Alle suchten fieberhaft und ich natürlich mit ihnen, aber nur, um Carmine zu überwachen.
Wie ich wußte, ging er, gefolgt von Don Antoniound dem Arzt, in Ignazios Zimmer. Er musterte kurz die Papiere auf dem Nachttisch, dann wandte er sich an uns, die wir uns erwartungsvoll hinter ihm aufgestellt hatten:
»Wenn auch hier nichts ist, kann ich Euch garantieren, Don Antonio, daß kein Testament existiert.«
»Wie, kein Testament? Aber mir hat sie mehrmals …«
»Sicher, mir auch. Aber Ihr wißt doch, wie die Fürstin, Gott hab sie selig, war. Ihr habt, genau wie ich, zwanzig Jahre lang mit ihr zu tun gehabt.«
»Und wie war sie, laßt hören?«
»War sie nicht manchmal zu Scherzen aufgelegt?«
»Das stimmt, aber …«
»Die Fakten sprechen doch für sich. Wir haben die ganze Villa durchgekämmt. Wenn es nicht einmal hier, in ihrem Lieblingszimmer, ist, heißt das, daß sie ihre Pläne geändert oder überhaupt nie ein Testament gemacht hat. Aber weshalb seid Ihr so verbittert, Don Antonio? Wegen des Kirchenbaus? Dafür gibt es keinen Grund. Hier haben wir die Fürstin Modesta, die weiß, was sie zu tun hat. Sie war die letzte, die den Willen der Fürstin, ihrer Schwiegermutter, aus deren eigenem Mund vernommen hat, und sie wird sicherlich wissen, was der Kirche und allen anderen zusteht. Habe ich recht, Fürstin?«
Carmine sah mich nicht an, aber er wies mir den Weg. Wie sollte ich etwas über das Vermächtnis wissen, wenn er es mir
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