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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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hatte auch ich das Gefühl, mich übergeben zu müssen.
    »Da haben wir es! Gerade erst gestern habe ich erfahren, daß ganz Catania verseucht ist. Alle Krankenhäuser sind voll, Flure, Treppen, alles … Wenn du dich übergeben mußt, dann halte es nicht zurück. Es ist besser, wenn das ganze Gift herauskommt.«
    »Aber was ist das überhaupt?«
    »Die spanische Grippe.«
    »Die spanische Grippe?«
    »Es sieht so aus, als hätten die von der Front zurückkehrenden Soldaten sie mitgebracht. Entschuldige meine Offenheit, aber mit irgendwem muß ich ehrlich reden können: Es ist ernst. Nicht einmal eine Woche ist es her, daß die Epidemie in Catania ausgebrochen ist, und die Toten sind schon kaum mehr zu zählen. Ich hatte gehofft, daß sie nicht bis hierher kommt, wo die Luft sauber ist und die Stadt weit weg. Ich hatte nichts davon gesagt, um euch nicht unnötig zu beunruhigen … Nein, nein, keine Sorge. Beatrice kann uns nicht verstehen, sie hat anderes zu tun. Das Fieber ist hoch. Hilf mir, sie aufzurichten, ich will die Lunge abhören. Und jetzt gib Anweisung, daß keiner in ihre Nähe kommt. Alle in Isolation. Laß die Fürstin nicht hierher. Wir müssen Lysoform besorgen. Inden Küchen muß alles ausgekocht werden. Die ganze Wäsche muß gekocht werden. Sehr gut, Modesta, ich sehe, daß du dich gefangen hast. Laß mich den Puls fühlen. Die Zunge? Normal … Ist der Brechreiz vorbei?«
    »Ja, er ist vorbei. Es war nur Einbildung. Sagt mir, was ich sonst noch tun muß.«
    Innerhalb einer Woche verwandelte sich die Villa in ein Lazarett. Der Gestank von Lysoform und Erbrochenem war überall. Und alle fielen, umgerissen von diesem beißenden und süßlichen Gestank nach Tod, in die Betten, die drei- oder viermal am Tag frisch bezogen werden mußten. Abgesehen von mir, Pietro und Carmine, der den Kontakt zur Außenwelt halten mußte, brannte in allen dieses Fieber. Zwei Krankenschwestern aus Catania kamen, aber innerhalb weniger Tage lagen auch sie im Bett. Im Dienstbotenflügel waren nur Quecksilber und zwei andere auf den Beinen. Der Arzt, selbst erkrankt, gab von zu Hause aus Anweisungen. Don Antonio empfahl uns von seinem Bett aus, zu beten. Der kleine Tanzlehrer ließ sich nicht mehr blicken, aber er war nicht gestorben wie viele andere aus der Umgebung.
    Carmine brachte uns jeden Abend bei der Rückkehr von seinen Unternehmungen Neuigkeiten, und wenn er nicht gewesen wäre, hätten wir nicht einmal Salz, Zucker und Medikamente gehabt. Er erzählte, daß alle Geschäfte geschlossen seien, viele mit Trauerflor behängt. Die Krankenhäuser waren brechend voll von Kranken und Sterbenden. In der Provinz von Messina waren alle Gefangenen ausgebrochen. In den größeren Städten plünderten diese Verbrecher und andere, die sich spontan zusammengerottet hatten, die Häuser, während die Kranken zuschauen mußten, ohne etwas dagegen unternehmen zukönnen. Alle Ärzte wurden herangezogen, sogar Studenten, die erst ein oder zwei Jahre an der Universität waren. Der Kampf gegen Ratten und Mäuse hatte begonnen. Auch hier in der Villa tauchten immer mehr davon auf, groß wie Katzen und ausgehungert. Wochenlang kämpften wir gegen Müdigkeit, Schmutz und Angst. Inmitten all der Angst tröstete mich nur eine kleine Hoffnung: diese Seuche, die sie, um ihr ein wenig den Schrecken zu nehmen, die »spanische Grippe« getauft hatten, brachte außer Kindern vor allem alte Menschen um. Aber als die Fürstin mich rufen ließ, war ich beinahe froh angesichts der nicht nur geistigen, sondern auch körperlichen Kraft dieser großen alten Dame, die stolz und unbeugsam wie auf einem Thron im Bett saß und so schrie wie eh und je:
    »Und, wie geht es Cavallina?«
    »Besser. Sie ist außer Gefahr.«
    Beatrice, die als erste krank geworden war, befand sich erst seit ein paar Tagen außer Gefahr. Sie war so abgemagert und geschwächt, daß sich mir bei dem Gedanken, ich hätte sie anstelle der Fürstin verlieren können, die Kehle zuschnürte.
    »Und Quecksilber?«
    »Gut, bestens.«
    »Sie war dir eine große Hilfe, nicht wahr?«
    »Unendlich groß.«
    »Ich werde sie dafür belohnen. Aber ich habe dich nicht deshalb gerufen, sondern um dir zu sagen, daß ich die Beine und auch diesen Arm nicht mehr bewegen kann. Kurz gesagt, die gesamte linke Seite ist gelähmt. Aber still! Mißbrauche mein Vertrauen nicht! Keine Träne und kein Wort darüber, zu niemandem. Ich will nicht, daß das bekannt wird. Keiner darf mich so sehen,außer dem Arzt

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