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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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Und als sich das Fräulein Inès mit ihren braunen Locken und den raschen und geschickten Bewegungen um ihn kümmerte, vergaß er mich vollkommen. So schnell, daß mich seine »Flatterhaftigkeit« beinahe enttäuscht hätte. Aber ich verspürte nach niemandem ein Bedürfnis, und nur wie durch einen Nebel erinnerte ich mich an Beatrices Zärtlichkeiten und Carmines Umarmungen …
    Carmine ließ sich nicht mehr blicken, die Arbeit war ganz auf meine Schultern gefallen. Nicht einmal mehr die Bücher und das Klavier brauchte ich. Diese Entdeckung erschreckte mich ein wenig. Würde ich jetzt immer so sein? Aber schon bald verstand ich, daß diese Gefahr nicht bestand. Wie ich jetzt zugenommen hatte, würde ich danach auch wieder abnehmen und dann sicher wieder so wie vorher sein, wenn ich nicht starb. Genau, das war diese Ruhe, die mir mein Körper in Form seliger Interesselosigkeit und ausgedehnten Schlafes aufzwang. Die Natur bereitete mich auf die mir bevorstehende Anstrengung vor. Zugleich aber ahnte ich, daß diese Ruhe, wenn sie sich zu oft wiederholte wie bei den Frauen, dieein Kind nach dem anderen gebaren, jenen Zustand stumpfsinniger Abwesenheit erzeugte, der sie dem Leben entfremdete. Natürlich, wie sollte auch diese Vorbereitung des Körpers und des Geistes auf das geheimnisvollste und gefährlichste Unternehmen, dem ein menschliches Wesen sich stellen konnte, nicht auf die Dauer alles andere sinnlos und uninteressant erscheinen lassen?
    Als sich der Augenblick mit einem brennenden Stoß ankündigte, der aus dem Magen nach unten drückte und die Hüften, die Nieren und den Darm aufriß, verstand sie, daß sie aus dieser Schläfrigkeit erwachen und kämpfen mußte. Es war nicht nur eine Anstrengung, wie sie gedacht hatte. Es war ein Kampf um Leben und Tod, der in ihr tobte, als ob ihr bisher unversehrter Körper in zwei Teile zersprungen wäre, dessen einer den anderen zu verschlingen suchte.
    »Schrei nur! Schrei, das hilft!«
    »Die Position ist richtig. Er liegt richtig. Schrei und preß! So schaffst du es!«
    Wer schafft es? Diese Welle aus Schmerz, die sie mit sich riß? Sollte sie dieser Welle folgen? Ihr Körper kämpfte mit diesem anderen Körper, der wie ein Stück Eisen an die Mauer ihres Bauches schlug, um hinauszugelangen. Das war der Feind. Dieses Stück Eisen, das um sich schlug, um aus dem Gefängnis zu gelangen, um zu leben, auch wenn es ihren Körper dabei zerriß, zerstörte, der, obwohl darauf vorbereitet, es nicht schaffte, diesen Feind auszustoßen, um nicht zu unterliegen.
    »Ja, so ist es gut. Du mußt dich nicht hin und her wälzen, sondern nach unten pressen, so hilfst du ihm und dir.«
    Ja, sie mußte pressen, um diesen Fremdkörper, der schon einen starken, eigenen Lebenswillen hatte, hinauszulassen.Sie spürte, daß er entschlossen war zu leben, selbst auf die Gefahr hin zu töten. Und nach einem letzten Druck, der von den Schultern ausging und den Unterleib und die Schenkel hart auseinanderriß, fühlte sie ihn mit einem dumpfen Schlag hinausfallen – ins Leere.
    Nein, sie hatten ihn aufgefangen. Hände hoben ihn hoch und schlugen ihn im milchigen Gegenlicht des Fensters. Es mußte im Morgengrauen sein, denn die Vögel schrien. Immer im Morgengrauen schrien die Vögel. Und auch von dort kamen Schreie, aus diesem von den Händen geschlagenen, verstümmelten Teil ihres erschöpften Körpers.
    Warum schrie dieses Wesen so? Weinte es über das eroberte Leben oder weil es im Geheimen dieses körperlichen Akts erfahren hatte, daß es, um zu leben, beinahe getötet hätte? Nur mein und sein Körper kannten die verborgene Bedeutung dieses erbitterten Kampfes ohne Feindseligkeit: jeder um sein eigenes Leben.

38
    Gerade noch rechtzeitig war ich von jener langen Reise zurückgekehrt, um zu merken, daß ich Beatrice beinahe zum zweiten Mal verlor. Wieso waren mir ihr starrer Blick und die streng zurückgekämmten Haare nicht aufgefallen, mit denen sie wie eine alte Frau aussah?
    »Wir müssen hierbleiben und ganz nach dem Willen der Großmutter leben. Auch wenn sie kein Testament hinterlassen hat, war es doch das, was sie wollte. Und es darf nichts verändert werden. Ab sofort kümmere ich mich auch um ihr Zimmer, das genau so bleiben muß, wie es ist – als könnte sie jeden Moment zurückkehren.«
    Ich war zu lange weg gewesen, und Gaia und all diese Toten hatten meine Abwesenheit ausgenutzt, um sich ihrer zu bemächtigen. Schlagartig verstand ich, was mit dem Wort Schicksal gemeint ist:

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