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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Goliarda Sapienza
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    Je länger ich all diese französischen und englischen Dichter las, um so klarer wurde mir, daß ich Lyrik tatsächlich nie verstanden hatte. Natürlich hatte ich Dante, Petrarca und Leopardi gelesen, aber ohne je den tieferen Sinn ihrer Verse zu erfassen. Ehrlich gesagt, hatte ich bisher immer lieber philosophische Aufsätze, historische und politische Texte und Biographien gelesen. DieseEntdeckung traf mich so, daß ich darüber beinahe das Testament vergaß. Ich muß wohl eine solche Verbissenheit bei der Lektüre gezeigt haben, daß es auch der Fürstin auffiel:
    »Mody, nicht, daß du mir vor lauter Gedichtelesen zerstreut wirst? Ich leihe dir nichts mehr, wenn du weiter so mit aufgerissenen Augen ins Leere starrst. Es sieht aus, als suchtest du etwas …«
    Merkwürdig war jedoch, daß sich unter all diesen Bänden ausgesuchter Lyrik zwei Prosawerke fanden: Die Verlobten von Manzoni und die Erzählungen von Edgar Allan Poe. Diese Tatsache machte mich stutzig. Ich legte Die Verlobten , die ich bereits kannte, beiseite und begann die Erzählungen von Poe zu lesen. In jener Nacht begegnete ich den schönsten Geschichten, die ich je gelesen hatte. Ich konnte gar nicht mehr aufhören, nicht einmal, als es hell wurde und mir der vergessene Schlaf ein wenig in den Augen brannte. Diese geheimnisvollen Zeilen, wo noch geheimnisvollere Mädchengesichter in magischen Bilderrahmen und unterirdischen Gärten erschienen, hatten mich derart gefesselt, daß ich einen Satz aus dem Entwendeten Brief zunächst nicht verstand, der der Schlüssel zu meiner mühevollen Suche war: »›Vielleicht ist es gerade die Einfachheit, welche Sie auf die falsche Fährte leitete.‹« Ich wollte schon zu Der Goldkäfer weiterblättern, als ich mich plötzlich im Bett aufrichtete und noch einmal die Seiten der Erzählung überflog, bis ich verstand, daß das Testament, wie der berühmte entwendete Brief, an einem ganz auffälligen Ort sein konnte, wo ich es nie vermutet hätte. Sofort untersuchte ich den Schreibtisch des Büros – ich gebe zu, daß ich mir Hoffnungen gemacht hatte –, die Tische im Lesesaal, die Regale in der Bibliothek, die Noten … Ich fand esschließlich auf Ignazios Nachttisch, in einer Mappe mit Entwürfen. Unser Schicksal lag hier, zwischen den von Ignazio signierten Zeichnungen, der mich von dem Foto herab bestürzt anstarrte. Kein Stäubchen auf diesem Nachttisch, der wie alles andere im Haus jeden Tag abgestaubt wurde. Wer wäre je darauf gekommen, zwischen diesen Zeichnungen eines Toten zu suchen? Und wirklich zitterten mir die Finger, als ich das Testament in die Hand nahm. Ignazios Augen ließen mir das Blut in den Adern gefrieren. Dieser Blick wollte leben, um uns alle mit seinem Tod zu durchbohren. Aber auch ich wollte leben, und zitternd legte ich das Dokument an seinen Platz zurück. Langsam, Modesta, und sei vorsichtig, damit niemand Verdacht schöpft, daß etwas angetastet worden ist. Das Gift der Angst kann zu Fehlern verleiten.
    Am Morgen darauf, von meiner Entdeckung und dem Schlaf erfrischt, hätte ich mir alles vorstellen können, nur nicht, daß sich Ignazios Zorn so schnell zeigen würde. Ein Blitzschlag hatte in der Nacht die große Fensterfront seines Zimmers zertrümmert, und angeblich waren alle Vögel von Tante Adelaide tot aufgefunden worden. Entsetzt ging ich mit Beatrice zusammen hin, um festzustellen, ob das, was Quecksilber erzählte, wirklich stimmte. In dem großen Käfig waren alle Vögel entweder schon tot oder kurz davor. Und als ob das nicht gereicht hätte, krümmte sich Beatrice bei diesem Anblick und preßte die Fäuste vor den Mund. Ich nahm sie in den Arm. Sie erbrach eine dunkle, mit Blut vermischte Flüssigkeit. Quecksilber begann so laut zu schreien, daß ich sie, so gut das mit Beatrice im Arm ging, ohrfeigen mußte, damit sie wieder zu sich kam.
    »Lauf, statt zu schreien! Geh und hol den Arzt, ich lege sie solange hier aufs Bett.«
    Auch dort erbrach sich Beatrice weiter. Ich nahm eine Waschschüssel, und mit einem feuchten Handtuch von Tante Adelaide tupfte ich ihr den Schweiß von der Stirn, die, als das Brechen aufhörte, plötzlich gelb und kalt wie Marmor geworden war. Dann ging das Übergeben von neuem los, und Beatrices Gesicht begann zu glühen und war plötzlich mit roten Flecken übersät. Unter diesem quälenden Auf und Ab verging eine Ewigkeit, bis der Arzt kam. Vor Angst und wegen des beißenden Geruchs, der das Zimmer erfüllte,

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