Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
länger jung war? Früher kannte ich keine Müdigkeit. Oder lag es an dem Wissen, daß ich die beiden nun ganz allein zu ernähren und zu beschützen hatte? Das mußte es sein. Alt war ich noch nicht. Nur die erste Jugend lag hinter mir, und ich hatte schon eine Vergangenheit. Meine Müdigkeit war nichtsanderes als die Sehnsucht nach etwas, das man einmal besessen hat und nun verloren glaubt.
Ebenjene Sehnsucht hat mich dazu bewegt, meine Jugend auf diesen Blättern festzuhalten, denn ich will nicht, daß Beatrices langes Haar vom Schweigen ausgelöscht wird. Ihr langes Haar, das leuchtete in dieser Sonne, die uns mit ihrer unsäglichen, betäubenden Hitze aneinanderband. Gern würde ich hier aufhören. Aber noch während ich dies schreibe, klopft es an der Tür, und ein Auto erwartet uns am Tor …
Der große Lancia Tricappa glänzte im Sonnenlicht, und obwohl ich inzwischen wußte, daß es keine Kutsche war, wurde mir schwindelig bei dem Gedanken an diese zweite Reise ins Unbekannte. Auch das war ein Gefühl aus der Vergangenheit, das sich wie ein angstvolles Echo vor die Freude des Augenblicks schob und sie vergiftete. Mein Kind-Ich hatte sich zwischen mich und die Gegenwart gedrängt. Wenn ich die Augen schloß, sah ich mich, wie ich mich an Mimmos Arm klammerte. Ich mußte dieses Mädchen verscheuchen, das sich einfach nicht beruhigen wollte. Mein Blick fiel auf Beatrice, die schweigend neben mir saß und ganz und gar damit beschäftigt war, Eriprandos Haar zu streicheln. Sie hatte ihn inzwischen den ganzen Tag auf dem Arm. Sie war es jetzt auch, die keine Amme mehr wollte, nicht einmal, um ihn zu waschen oder zu füttern, und das war auch für mich ein Segen. Seit dem Tod der alten Fürstin hatte ich doppelt soviel Arbeit, und obwohl Carmine mir half, blieb mir nur wenig Zeit für mich. Als das Auto losfuhr, lachte Beatrice leise. Sie sah nicht einmal mehr zurück, um einen letzten Blick auf die Villa zu werfen, so sehr war sie mit ihrem Neffen beschäftigt. Die beiden glichen sich wie ein Ei dem anderen. In der Villa hatten das allemonatelang immer wieder gesagt. Das war nur natürlich, aber in dieser neuen Umgebung war die Ähnlichkeit wirklich frappierend, selbst angesichts der Tatsache, daß die zwei denselben Vater hatten. Ich drehte mich nach dem Haus um. Dort hatte ich nichts zurückgelassen. Mimmo war nicht da, und Jacopos Bücher hatte ich schon mit Fräulein Inès, Ippolito und Pietro vorausgeschickt – Pietro, der verbittert den hingebungsvollen Blick beobachtete, mit dem sein Herr seine neue Flamme bedachte.
»Ich bin untröstlich, Fürstin, ganz untröstlich! Ich hatte gehofft, daß dieses Strohfeuer für die Turinerin in einem Monat verlöschen würde, aber … ach, die Männer! Nehmt’s Euch nicht zu Herzen. Habt Geduld! Darin sind alle Männer gleich. Auch mein Vater, Gott hab ihn selig, lief jedem Rockzipfel hinterher. Ihr müßt mir glauben, daß mein Fürst Eure Durchlaucht liebt … Wie unangenehm, über so etwas zu reden. Also, ich glaube, so wie die Dinge jetzt stehen, sollten wir doch in Catania … Euer Durchlaucht verzeihen, also, wir sollten ihn ablenken, so wie wir es zu Zeiten der Fürstin, Gott hab sie selig, gehalten haben, weil – da liegt das Problem – die Turinerin Jungfrau ist und … Aber was ist, weint Ihr?«
Armer Pietro, ganz im Gegenteil! Ich hatte die Hände vors Gesicht geschlagen, weil ich vor Lachen schier platzte. In Catania würde ich ein großes Zimmer voll von Jacopos Büchern ganz für mich allein haben, in Catania, der Stadt meiner Träume. Der Stadt, nach der ich mich immer gesehnt hatte und die so unerreichbar schien, daß ich beinahe in Panik geriet, als Beatrice rief:
»Catania! Catania! Sieh nur, wie schön, Modesta! Und du auch, Eriprando, schau dir deine Stadt an!«
Voll Staunen über diese Nähe öffnete ich die Augennur, um sie sofort wieder zu schließen, geblendet von der Masse schwarzer Dächer, die im Sonnenlicht glänzten und in einen blauen, sich, wohin ich auch schaute, bis in die Unendlichkeit ausdehnenden Himmel zu stürzen schienen: das Meer! Tuzzus Meer, so blau!
»Ja, das ist das Meer! Aber wer ist Tuzzu? Genau, dort, wo es heller wird, ist der Horizont.«
Die Augen voll von dieser unermeßlichen Weite strahlenden Lichts, das selbst unter meine geschlossenen Lider zu dringen schien, hörte ich mich sagen:
»Laß uns gleich hinfahren, um es aus der Nähe zu sehen.«
Unter Beatrices Führung begann das Auto zu rasen, als würde
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