Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
es von all den hohen schwarzen Mauern voller Fenster und eiserner Balkone verfolgt, die hinter uns herstürzten. Kaum hielt das Auto an, sprang ich außer Atem heraus, gefolgt von Beatrice. Und vielleicht weil ich erwartet hatte, wieder darauf hinabzuschauen wie zuvor, mußte ich den Blick heben, um jenen flüssigen umgekehrten Himmel zu sehen, der sich ruhig in einer grenzenlosen Freiheit verlor. Große, weiße Vögel segelten auf den Böen des Windes. Meine Lungen öffneten sich befreit, und zum ersten Mal atmete ich. Zum ersten Mal fielen mir vor Dankbarkeit Freudentränen auf die Lippen. Oder war es der beißende und intensive Geschmack dieses Windes, der sich über mich beugte, um mich zu küssen?
ZWEITER TEIL
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Aber das Versprechen von Freiheit, das Wind und Wellen unaufhörlich wiederholten, zerschellte an den scharfen Lavazungen des Ätna und den Mauern der rosenumrankten Villen. Durch die Straßen und Gassen, über die verlogenen Plätze strömten nur Männer mit Strohhut und arrogant zur Schau gestelltem Spazierstock, gefolgt von den Blicken weiblicher Schatten, die sich hinter Vorhängen oder im Dunkel der immer heruntergelassenen Jalousien verbargen.
In der Villa der Via Etnea erwartete uns eine Flucht von feindseligen Salons. Dort marschierte bereits zwei Tage nach unserer Ankunft ein Heer von mit tadellosen schwarzen oder weißen Handschuhen und Blumenhüten bewaffneten Frauen auf, die ihre Fächer öffneten und schlossen und uns Schutz und gute Ratschläge anboten.
»Um Himmels willen, bloß nicht! Allein in die Oper? Unmöglich! Liebe Nichte, wir haben eine Loge …«
»Unbedingt! Man hat sich schon sehr über Eure Abwesenheit am Sonntag gewundert. Natürlich wart Ihr von der langen Reise erschöpft. Aber, meine Täubchen, denkt daran, am Sonntag in die Mittagsmesse. So ist es Tradition.«
»Allein ins Café? Das ist ganz unmöglich, liebe Cousine, unmöglich!«
»Sicher, es ist schon ein Unglück, weder Mann noch Bruder zu haben.«
»Ins Lichtspieltheater? Diese neumodische Teufelei? Bloß nicht! Wir gehen da nie hin, abgesehen von ganzwenigen Ausnahmen und natürlich immer nur, wenn sich einer unserer Männer vorher vergewissert hat, daß der Film nicht zu freizügig ist.«
»Einen Historienfilm nennt ihr das, liebe Cousine? Von wegen! Die Historie dient doch nur als Deckmantel für unschickliche Szenen mit leichten Mädchen in tief dekolletierten Kleidern. Orgien! Reden wir lieber nicht davon. Alle Welt spricht noch von diesem Film, Cabiria . Entsetzlich vulgär. Und im Parlament nehmen sie unter dem Vorwand der Freiheit den Mund voll. Aber was kann man auch von diesen Sozialisten erwarten? Und unser Heiliger Vater im Gefängnis! In der Zwischenzeit halten diese Unsitten auch in unseren Häusern Einzug. Gestern traf mich fast der Schlag, als ich hörte, wie mein Enkel, der erst vierzehn Jahre alt ist – was wächst da nur für eine rohe Generation aus der Art geschlagener Egoisten heran … Wo war ich gerade? Ach ja, mich traf fast der Schlag, als ich hörte, wie mein Enkel seine Schwester dazu drängte, sich das Haar kurz zu schneiden wie diese Tollhäuslerinnen auf dem Kontinent, diese Suffragetten. Mein Gatte hat sie in Mailand gesehen und sagt, daß man sie mit ihrem Haarschnitt und dem flachen Busen nicht von einem Mann unterscheiden kann. Jetzt fehlt bloß noch, daß sie Hosen tragen, und Amen! Alles ist im Umbruch, alles …«
»Falls ich mir eine Bemerkung erlauben darf, liebe Freundin, Ihr lest zuviel. Ihr verderbt Euch noch die Augen. Mein Onkel ist Arzt und sagt, daß man vom Lesen Falten bekommt … Hat Gaia Euch das etwa erlaubt? Aber natürlich, sie war ja schon immer etwas sonderbar! Eine große Dame, da gibt es nichts, aber zu … zu …«
»Am vergangenen Sonntag in der Messe hat der junge Baron Ortesi ein auffallendes Interesse an unserer liebenBeatrice gezeigt. Diese Barone sind zwar nicht von altem Adel, aber dafür vermögend! Man müßte ihn einmal mit Beatrice zusammenbringen … O nein, doch nicht hier! Alleinstehende Frauen dürfen keinen Herrenbesuch empfangen. Man könnte allerdings die Liebenswürdigkeit der Cousine Esmeralda nutzen, die freundlicherweise angeboten hat, zu sich zum Tee zu laden. Schlecht wäre es nicht, wenn ein Mann ins Haus käme …«
Beatrice wurde immer blasser, und mich bedrückten die vielen Zahlen und Rechnungen so sehr, daß ich nicht mehr schlafen konnte. Wenn ich mich nachts im Bett hin und her wälzte, stieß ich an die Mauern
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