Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts
Ole war da und nicht da, wie ein Gespenst.
Jonas wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er schließlich langsam auf eine der Hütten zuging. Die Sonne stand tiefer jetzt, balancierte auf einem der Baumwipfel und für einen Moment war Jonas von ihrem hellen, sich brechenden Licht geblendet. Was nun?
Die Hütte war bis auf ein platt gedrücktes Lager aus Reisig leer. Es roch nach Harz, Laub und Erde. In einem Winkel, halb in den Boden getreten, fand Jonas den abgebrochenen Schaft eines Pfeils, klaubte ihn auf und spielte damit, bis seine Hände vergaßen, was sie taten. Irgendwann hockte er sich, ohne es recht zu bemerken, auf das Bett aus Reisig. Die Sonne sank. Das helle Holz der Hüttenwand färbte sich grau. Es wurde kühler, der Geruch des Waldes kam näher, und ohne die Dämmerung hätte Jonas glauben können, dass seit dem Morgen keine Zeit vergangen war. Ole jedenfalls stand genauso wie in der Früh im Eingang und benutzte beinahe die gleichen Worte.
»Es geht dir viel besser, nicht wahr? Kein Fieber mehr, ja?«
Jonas starrte auf Ole, wie er da im Eingang lehnte, auf den schon vergessenen Schaft in seiner Hand, dann wieder auf Ole. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er war befangen.
»Komm! Du siehst schon viel besser aus!«, sagte Ole aufgekratzt. »Du hast es überstanden!«
»Ja«, sagte Jonas langsam. »Sieht so aus. Bestimmt.« Er hatte ja wirklich kein Fieber mehr, jedenfalls fühlte er sich nicht mehr krank. Warum wollte er das nicht so ohne weiteres zugeben?
»Prima.« Ole grinste, so wie Ole immer grinste, von Ohr zu Ohr, als sei gar nichts geschehen. Niemand ist hier zurückgelassen worden, sagte dieses Grinsen, keiner hat sich beleidigt und verletzt in eine Hütte verkrochen. Jonas begriff. Ole würde kein einziges Wort über die vergangenen Stunden verlieren und Jonas würde es besser genauso halten.
»Ich zeig dir alles. Das ganze Lager. Was hältst du davon?«, sagte Ole viel zu laut.
Sie ließen nichts aus. Ole führte Jonas kreuz und quer über die Lichtung. In der Vorratshütte lupfte er den Deckel eines jeden Fasses, schnürte Säcke auf – und wieder zu –, fuhr mit der Schütte durch einen Berg von Bucheckern oder Mehl.
»Kannst du Brot backen, Jonas Nichts? Hier in diesem Kästchen werden die Feuersteine verwahrt … Da ist der Zunder … In der Früh muss man die Decken am Feuer trocknen. In den Hütten ist es feucht … Dort drüben im Wald, da vorn etwa – siehst du? – wächst Kresse.«
Ole redete ohne Unterlass und seltsam befremdet hörte Jonas ihm zu. Und als Ole, wie nebenbei, in Wirklichkeit aber furchtbar umständlich, von den Sternen zu sprechen begann und wie man sich an ihnen orientieren könne, als er bald darauf scheinbar zufällig den besten Weg nach Kanaria beschrieb – »Weißt du noch, Jonas, der Wald, wo wir uns getroffen haben?« –, da wusste Jonas, dass auch Ole ihn verlassen würde. Unbemerkt, während Ole redete und erklärte und plauderte und scheinbar vom Hölzchen aufs Stöckchen kam, hatte sich die Gewissheit, dass es so war, angeschlichen und stand Jonas auf einmal in ihrer ganzen erschreckenden Größe vor Augen. Ole würde gehen. Vielleicht hatte er sogar darüber nachgedacht, Jonas mitzunehmen, aber wenn, dann hatte er diesen Plan verworfen und sich stattdessen vorgenommen, Jonas alles zu erklären. Jonas sollte allein im Lager zurechtkommen können und Ole nutzte die Zeit bis zu seinem heimlichen Aufbruch. So machst du Feuer, Jonas; so backst du Brot; so findest du deinen Schrank.
In der Dämmerung wanderten sie einmal mehr über die Lichtung und Ole redete immer noch. Jonas jedoch hörte ihm nicht mehr zu. Er war wütend und traurig und einsamer, als er es sein würde, nachdem Ole sich erst davongestohlen hätte. Aber da war noch etwas, und deshalb hielt Jonas den Mund, statt Ole anzuschreien oder ihm besser noch an die Gurgel zu gehen. Jonas hatte Mitleid mit Ole Mond. Je verzweifelter Ole Erklärung an Erklärung reihte, ohne auch nur zu ahnen, dass Jonas ihm lange nicht mehr zuhörte, desto besser konnte Jonas sich vorstellen, was in den zurückliegenden Stunden in Ole vorgegangen war. Er wusste sogar, was Suleman Mond seinem Neffen mit auf den Weg gegeben hatte, es konnte nicht anders sein. Suleman hatte gewusst, dass er Ole nicht im Lager würde halten können, es sei denn, er packte seinen Neffen bei der Ehre. Ole war stolz und deshalb hatte sein Onkel Jonas vorgeschoben. Jonas konnte nicht wissen, was genau Suleman
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