Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts
entfernt. Er sah gequält aus. »Kanaria ist zerstört, sagst du?«, fragte er leise. »Der Hirte ist mächtig.«
»Und wird mächtiger von Tag zu Tag«, knurrte Grimbert. »Sogar die Steine sind ihm mittlerweile zu Befehl. Ich habe es gesehen. Er hebt die Hand und die Mauern fallen. Worauf wartest du, Suleman Mond?«
Einen Augenblick lang war es still in der Runde. Dann trat Walrider vor. »Er wartet auf die Prophezeiung«, sagte er. »Dass sie sich erfüllt.«
Ein abfälliges Murmeln wurde laut.
Ole blickte jetzt aufgeregt nach allen Seiten.
»Suleman wartet auf ein Zeichen«, fuhr Walrider fort. »Und er wird noch warten, wenn sein Bart schon weiß ist.«
Suleman funkelte den Alb böse an. Aber er schwieg.
»Wir haben lange genug gewartet«, rief jemand in Jonas’ Rücken.
»Lass uns gehen, Suleman!«
»Ja! Lass uns gehen!«
Suleman Mond stand da wie versteinert, während die Rebellen immer lauter wurden.
»Wir brechen heute noch auf!«
»Wir warten nicht länger!«
»Wir wollen uns nicht mehr verstecken, Suleman!«
Grimbert hatte eine ganze Weile geschwiegen, jetzt trat er auf Suleman zu und legte ihm beide Hände auf die Schultern. Wie viele Jahre war es her, fragte sich Jonas, dass diese beiden Männer sich berührt hatten? Und wie gut mussten sie sich kennen, nach all diesen Jahren, immer noch!
Suleman Mond hatte den Kopf gesenkt, bis sein Kinn auf der Brust lag. Grimbert lehnte seine Stirn gegen Sulemans Turban. Für einen Augenblick standen die beiden einfach so da. Dann befreite sich Suleman und trat einen Schritt zurück. Als er sich an die Rebellen wandte, waren sein Mund und seine Augen schmal. »Wir brechen in einer Stunde auf«, sagte er mühsam.
Das 38. Kapitel,
in welchem Jonas Ole ein Geschenk macht
Alles war in Aufruhr. Die Rebellen waren von einer regen Geschäftigkeit beseelt. Zu allen Seiten der Lichtung schwärmten sie aus, redend oder rufend und heftig gestikulierend. Bald darauf schritten Grimbert und Fiet die Schutzhütten ab. Ole schleppte einen mit Pfeilen gespickten Köcher und schien selbst wie ein Bogen gespannt. Bald schon türmte sich die Ausrüstung vor den Hütten. Worte wie »Rammbock« oder »Leiter« wurden gebellt und wehten wie Schlachtenlärm herüber. Nur Jonas, Krempel und Suleman Mond waren auf der Lichtung zurückgeblieben, jeder für sich, allein mit seinen Gedanken.
Jonas hatte so viel erfahren. Peregrin Aber und Tabbi waren durch den Schrank gegangen; Tabbi und Lunette hatten sich, hoffentlich, zusammengetan; und Ruben war zwar immer noch gefangen, aber jetzt wusste Jonas immerhin wieder, wo. In Gedanken versunken, schlenderte er zu dem kleinen Bachlauf hinüber, der die Lichtung in zwei Teile teilte. Munter rann das klare Wasser durch sein schmales Bett. Vielleicht, überlegte Jonas, saßen Peregrin Aber und Ruben im selben Kerker; vielleicht waren sie wenigstens nicht mehr allein …
Als er zu Suleman und Krempel hinüber äugte, flüsterten die beiden miteinander, und schließlich brach auch Suleman zu einer der Hütten auf. Mit so weit ausholenden Schritten, dass sich sein Kaftan spannte, lief er über die Lichtung.
»Ole?«, hörte Jonas ihn rufen. »Ole Mond!«
Während Jonas beobachtete, wie Suleman seinen Neffen erreichte, ihn an der Schulter fasste und in den Schatten einer Hütte führte, kam Krempel näher. Still sahen sie zum Waldrand hinüber. Suleman hatte zu reden begonnen, die Hand auf der Schulter seines Neffen, bis Ole sie mit einer rüden Geste abschüttelte.
»Er wird ihn nicht mitnehmen«, sagte Krempel trocken.
»Was?«, fragte Jonas verdattert.
Ole wandte sich abrupt ab. Er wollte weglaufen, aber Suleman hielt ihn kurzentschlossen fest.
»Suleman wird Ole nicht mitnehmen«, sagte Krempel. »Alle wollen gehen, also bleibt Suleman keine Wahl – er lässt sie. Aber das, was ihm mehr bedeutet als sein eigenes Leben, das lässt er hier. Sein Pferd – und Ole.«
»Du meinst …?« Jonas war heillos überrascht. Sollte Ole allein in der Ferne zurückbleiben?
»Du wirst auch nicht mitgehen, Jonas«, sagte Krempel.
Drüben am Waldrand schlug Ole um sich, bis Suleman seine Arme packte.
»Was auch immer geschieht, wenigstens euch Kinder müssen wir verschonen.«
»Aber …«, rief Jonas.
»Aber was?«, fragte Krempel streng. Er blinzelte nicht einmal.
»Ich …« Jonas stotterte. »Ruben! Und Peregrin Aber! Ich muss doch … Peregrin Aber ist mein Vormund!«
»Wir werden auch sie befreien, Jonas Nichts. So wie unsere
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