Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts
baumelnden Zügel nicht zu fassen. Dann stellte sich der Wieflinger dem Schimmel tollkühn in den Weg.
»Ho!«, rief er und griff blitzschnell in die Zügel.
Der Schimmel kam tänzelnd zum Stehen.
Die Menge auf dem Dorfplatz raunte.
»Das ist Oles Pferd!«, flüsterte Jonas beklommen. »Ole hat es geritten.«
Der Marquis de Lunette pfiff durch die Zähne. Sein Blick irrte über den Platz.
Auch Jonas suchte die Umgebung ab. Wo konnte Ole stecken? Woher war das Pferd gekommen?
Alle auf dem Platz schienen jetzt den Atem anzuhalten. Jonas konnte spüren, wie ihre Blicke auf ihm lasteten.
Da war der See, da das Ufer. Wo es nicht bebaut war, war es dicht bewachsen. Kein Pferd würde sich freiwillig durch so dichtes Gestrüpp schlagen. An die Büsche grenzten einige wenige Bäume, dicht an den Hügel gedrängt, der hinauf zu der Lichtung führte.
Unter der Eiche löste sich jemand aus der Menge. Tilla kam auf ihn zu. Sie wirkte befangen. Nervös rückte sie sich die Haube zurecht und strich ihre Schürze glatt. Als sie vor Jonas stand, suchte sie aufgeregt nach Worten.
»Da«, sagte sie endlich schüchtern und zeigte mit ausgestrecktem Arm den Hügel hinauf. »Das Pferd ist da runtergekommen.«
»Danke«, sagte Jonas. Er fühlte sich unbehaglich. Warum starrte Tilla ihn so an?
Während er angestrengt zur Hügelkuppe hinaufsah, machte Tilla Anstalten, sich wieder zurückzuziehen, blieb dann aber doch, wo sie war. Sie fuhr immer wieder über den Stoff ihrer Schürze. »Wir haben dich gehört«, stieß sie schließlich hervor. »Auf dem See. In dem Boot. Damals. Arne hat dich gehört. Du hast unsere Namen geflüstert.«
»Ja«, sagte Jonas. Seine Stimme war belegt.
»Wir«, stammelte Tilla und knetete ungestüm ihre Schürze, »sind dir sehr dankbar dafür. Sehr. Wir …« Ohne den Satz zu Ende zu bringen, machte sie auf dem Absatz kehrt und lief eilig zu ihren Leuten zurück.
Jonas war wieder rot geworden. Halb blind starrte er auf den Hügel.
Dort oben rührte sich nichts.
Wo war Ole?
Unter der Eiche wurde Tilla mit einem Tuscheln empfangen.
Mit halbem Ohr hörte Jonas, wie jemand das Pferd wegführte. Die Hufe klapperten.
»Besser, wir schauen nach«, murmelte Lunette.
Aber es kam nicht dazu. Zuerst fiel ein langer, breiter Schatten den Hügel hinab. Dann erkannte Jonas hoch über sich auf der Hügelkuppe Faramunds massige, gedrungene Gestalt, den fleckigen, blanken Schädel. Und im selben Moment krampfte sich alles in ihm zusammen. Der Mönch zerrte Ole vor sich her! Er hatte einen seiner feisten Arme fest um Oles schmalen Körper geschlungen. Ole rührte sich nicht. In der anderen Hand hielt Faramund ein Messer. Für einen schrecklichen Moment blitzte die Klinge im Sonnenlicht. Sie lag genau an Oles Kehle.
Es war, als würde der Dorfplatz stöhnen. Wie eine Welle brandete der Schreckenslaut gegen den Hügel.
»Das ist der andere Junge!«, rief Tilla.
Lunette entfuhr ein Fluch.
Für einen Augenblick wurde Jonas schwindlig. Er fasste nach dem Arm des Marquis.
»Seht ihr mich?« Faramunds dünne Stimme tat Jonas in den Ohren weh. »Hört ihr mich?«
Unwillkürlich rückten die Leute auf dem Platz enger zusammen.
Jonas’ Hand verkrallte sich in Lunettes Ärmel. Oles Gesicht war grau. Mit weit aufgerissenen Augen sah er zu ihm herab. Aber er war am Leben! Jonas versuchte, sich zu beruhigen. Wenn Faramund Ole töten wollte, dann hätte er es schon getan.
Lunette schüttelte Jonas’ Hand ab. »Was willst du, Faramund?«, rief er hinauf. Seine Stimme bebte vor Empörung.
Faramund lächelte bösartig und fasste Ole noch fester. »Soll ich mit dir verhandeln, Lunette?«, kam es zurück. »Mit dir? Die Kaiserin ist geschlagen. Leopold ist in den Händen des Hirten. Und Suleman und Fiet sind das bald auch. Es geht zu Ende mit euch!«
Lunettes Kiefer mahlten. Der Zorn stand ihm im Gesicht. »Was willst du, Faramund?«, rief er wieder. »Rede!«
Der Mönch antwortete nicht gleich. Voller Verachtung ließ er den Blick über den Dorfplatz schweifen. Ole hing wie tot vor seiner Brust. »Gut«, rief er schließlich mit spitzer Stimme. »Dann rede ich eben mit dir.« Er zog den hilflosen Ole ein Stückchen höher. »Ich will tauschen, Lunette. Das Leben dieses Jungen gegen deinen Jungen da. Und gegen die Figuren!«
Auf einmal rauschte alles. Jonas war plötzlich wie taub. Der Tumult in seinen Ohren übertönte alles. Er hörte nicht, wie Tabbi, der Wieflinger und Arnon Blau sich hinter ihn stellten. Er
Weitere Kostenlose Bücher