Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts
zum allerersten Mal sah Jonas Irmingasts Augen. Sie flackerten und fanden nirgends Halt.
»Du kriegst mich nicht, du Bastard«, zischte Irmingast mit schwächer werdender Stimme. »Ich geh nicht zurück. Das hier … das hier …« Irmingast verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße sichtbar war. »Das hier ist alles meins.«
Jonas zwinkerte nicht einmal, als Irmingast wieder hinter der Balkonbrüstung verschwand. Er wartete nur. Dann endlich knirschte Staub auf dem Balkon. Etwas schleifte. Schließlich war es still. Irmingast war ins Schloss gekrochen.
Jonas sah ins leere Vestibül und dann an der zerstörten Fassade hinauf. Für einen Augenblick nur erschien dort oben Almas bleiches, leeres Gesicht hinter einem schmutzigen Fenster. Seltsam verwischt sah es aus und verschwand wie ein Spuk.
Jonas legte Faramunds traurige Reste in den Koffer, schloss den Deckel und holte tief Luft. Es gab nur noch wenig zu tun. Er bückte sich, und die kleine Spinne, die so lange in seinem Ärmel ausgehalten hatte, huschte über seinen ausgestreckten Unterarm, den Handteller, die Fingerspitzen bis auf die Trümmer. Sie blieb nicht allein. Hunderte folgten ihr kribbelnd über Jonas’ Haut, tausend andere waren schon da. Sie alle erklommen ihren spitzen Gipfel – einen Mauerbrocken, das Bruchstück einer Säule, ein zerborstenes Fensterbrett oder die Füße einer Statuette, die kopfüber im Schutt steckte. Dann streckten die Spinnen sich, als stünden sie auf Zehenspitzen, schickten ihre hauchdünnen Segel aus und flogen davon – auf den neuen Spinnenpalast zu.
Sanft landeten sie, wohin ein lauer Wind sie eben trieb – in die offen liegenden, grauen Räume, in denen schon kein Möbelstück mehr stand, oder hoch hinauf auf das flache Dach. Sie machten sich gleich an ihr Werk und trieben ihre Fäden aus. Bald würden ihre Netze die Ruine überspannen, die Fenster verhängen, neue, klebrige Wände errichten und die unauffindbaren Treppengehäuse mit staubig grauer Zuckerwatte füllen.
Jonas war schon auf dem Weg treppab. Er hatte den Koffer im Arm. Irmingasts banges Rufen hörte er zwar, doch er hörte nicht hin.
Das 47. Kapitel
nimmt Abschied
Als sie den Steg erreichten, wehten über dem neuen Spinnenpalast schon die ersten staubgrauen Fahnen. Die Kaserne war bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Nichts war es wert, mitgenommen zu werden, alles würde zerfallen, überwuchert, vergessen. Jonas trat auf den Steg – das herrlich hohle Geräusch von Schritten auf Holz über Wasser. Drüben am Ufer sah er Peregrin Aber stehen. Er freute sich auf seinen Advokaten.
Ganz für sich, mit seinen Gedanken allein, lief er über den See. Die nächsten Stunden würden ihm schwer werden. Abschied nehmen war schwer, aber so hatte er sich entschieden. Er wollte nach Wunderlich zurück, er wollte Brand und Elsa besuchen, am liebsten würde er sie ganz ins Herrenhaus holen. Dort war doch Platz, und was sollten sie auf dem Hof, was sie in Wunderlich nicht könnten? Kühe halten? Brot backen? Er würde Tabbi fragen. Bestimmt würde sie sich auf Elsa freuen. Und war Brand nicht Rubens alter Freund?
Die Sonne schien jetzt prall auf den See, es roch gut auf dem Wasser, nach Sommer und warmer Haut.
Hinter sich hörte Jonas schnelle, schwere Schritte. Es war der Wieflinger, der zu ihm aufschloss.
Eine Weile ging er einfach neben ihm her und schöpfte Atem. Er musste gelaufen sein, holterdipolter über den Steg. Ob irgendjemand zurückschaute und sah, wie der Steg schrumpfte?
Der Wieflinger räusperte sich. Vielleicht wusste er nicht, wie anfangen.
Jonas linste schelmisch zu ihm hinauf. Der Räuber war aufgeregt, seine Wangen leuchteten rosig.
»Ja?«, fragte Jonas wie nebenbei, dabei wusste er recht gut, was der Wieflinger wollte. Der Räuber war doch ein Teil von ihm, das hatte er selbst so oder so ähnlich gesagt. Und wollte nicht wenigstens ein Teil von ihm, Jonas, bleiben? Hier, im grasgrünen Kanaria, am blauen See und seinem gezackten Ufer, in den verwinkelten Gassen von Callamaar, den harten, grauen Bergen oder den verwunschenen Wäldern der Ferne?
»Ja, Wieflinger?«, fragte Jonas noch einmal.
»Abschiede sind nichts für mich«, brummte der Räuber und zog sich die Krempe in die Stirn. »Ich sag’s also rundheraus.«
»Was?«, fragte Jonas.
»Na ja.« Der Wieflinger murmelte das mehr vor sich hin. »Ich dachte, ich bleibe hier, Jonas Nichts. Mal sehen. Vielleicht geh ich in die Berge. Oder die Ferne. Hat mir da ganz gut
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