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Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts

Titel: Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Freund
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Unheimliches ging von diesen Bildern aus. Die Mädchen kamen ihm vor wie Gespenster, seit Ewigkeiten so alt wie er in diesem Augenblick.
    »Das sind Clara und Alma«, sagte Tabbi leise.
    Es war so leicht, die beiden zu unterscheiden. Alma war das dicke Mädchen mit den kleinen Augen und dem beleidigten Blick. Sie saß, aber ein pompöser Rock verdeckte den Stuhl. Clara hingegen stand. Ihr Bild zeigte ein schmächtiges Kind, das in seinem Kleid fast verschwand. Weiß wie ein Leinentuch war ihr Gesicht, aber die großen Augen darin blitzten. Almas Lippen waren kaum mehr als ein Strich, Claras hingegen sahen aus, als würden sie gleich das nächste Wort formen, und dann wiederum das nächste und noch eins und noch eins, bis die Geschichte zu Ende erzählt wäre und die nächste begänne. Die Geschichten warteten hinter diesem Mund so wie hinter dem von Irmingast das Gitter seiner Zähne.
    »Was hält sie da in der Hand?« Jonas trat so nah an das Bild heran, dass seine Nasenspitze beinahe die Leinwand berührte. In Claras blassen Händen war etwas Buntes verborgen, sehr klein und nur mit grobem Pinselstrich gemalt. Es war schwer zu erkennen, was es war, es wollte so gar nicht zu dem Bild passen, den dunklen Farben von Kleid und Hintergrund und dem ungesunden Weiß der Haut. Das kleine Ding war rot und blau und gelb und grün.
    »Das ist irgendein Spielzeug«, sagte Tabbi. »Die Kinder müssen so viel Spielzeug gehabt haben! Damals lebte der Baron noch. Er hat sie kaum aus dem Haus gelassen, aber er hat ihnen Spielsachen gekauft, so viel sie wollten.«
    Jonas griff nach Tabbis Leuchter. Es dauerte einen Augenblick, bis er herausgefunden hatte, wie er ihn halten musste, damit der Kerzenschein sich in der Ölfarbe nicht spiegelte. Dann aber konnte er erkennen, was Clara hielt. Es war eine kleine Figur mit blauem Rock, roten Kniebundhosen und einer lustigen gelben Mütze auf einem grünen Podest. Sie stand ein wenig vorgebeugt und zu ihren Füßen tanzte eine noch viel winzigere Figur in denselben Farben. Der Maler hatte ihre Umrisse nur noch angedeutet.
    »Die Figur spielt mit einer Marionette, oder?« Jonas sah Tabbi fragend an.
    »Ich weiß nicht. Ich habe mir das Bild nie so genau angesehen.« Jetzt beugte sich auch Tabbi vor, blinzelnd. »Ich glaube, das ist Sonneberger Spielzeug.« Sie richtete sich wieder auf. »Sie haben es früher aus Brotteig gemacht, weißt du? Aus Brotteig, Sand und Leim.« Sie lächelte bei der Vorstellung. »So was hast du nie gehabt, was?«
    »Nein.« Jonas konnte den Blick von der Figur nicht lösen. »Sie muss ihr viel bedeutet haben, wenn sie sogar mit auf dem Bild ist«, murmelte er.
    »Bestimmt.« Tabbi nickte nachdenklich. »Clara sprühte, wenn du weißt, was ich meine. Selbst als sie schon eine alte Frau war und in diesem Ding saß. Diesem Rollstuhl. Einmal hat sie mich einen Kuchen backen lassen, der sollte aussehen wie ein kleines Schloss. Stell dir vor! Der Kuchen ist mir ziemlich misslungen.« Sie lachte.
    »Ob es diese Figur noch gibt?«, fragte Jonas. Eigentlich überlegte er laut.
    Tabbi fasste sich an ihr starkes Kinn. »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich verstaubt das jetzt alles im Spielzimmer. Aber da darf ich nicht rein. Und du, Jonas, darfst das auch nicht, hörst du?«
    Er war ganz woanders.
    »Hörst du, Jonas?«

Das 7. Kapitel,
in welchem Jonas sucht und findet
    In der Nacht hatte es geschneit, und als Jonas am Morgen zu seinem Fenster lief, schneite es noch immer. Winzige, feine Flocken segelten vom Himmel und eroberten das Land. Die Hügel ringsum hatten sich in Wellen verwandelt und rollten durch eine gleißende, pappige See. Jonas drückte seine Nase an die kalte Fensterscheibe. Die traurige Weide neben Claras Grab trug jetzt einen dicken, weißen Saum. Jonas fiel der Geruch des Holzschuppens ein, in dem sein Schlitten stand. Wäre er noch bei Brand, würde er jetzt von Elsa einen Kerzenstummel borgen und die Kufen wachsen. Er lächelte. Im ersten Schnee des Jahres wurde einem niemals kalt.
    Wenig später lief er die große Treppe hinab. Heute Morgen sah der Leuchter an der Decke aus, als wäre er aus Eis. Kalte Luft drängte in die Halle.
    Tabbi stand in der offenen Tür und sah hinaus. Statt Jonas zu begrüßen, zog sie ihn einfach an sich und gemeinsam sahen sie den Flocken beim Fallen zu. Die Auffahrt bis hinunter zur Mauer war schon verschwunden. Der Schnee machte jede Fläche gleich.
    »Schön, nicht?«, sagte Jonas, als lägen auch seine Sorgen dort unter dem

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