Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts
der Serviette die farblosen Lippen. »Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich einmal mit einem Bastard am Tisch sitzen muss. Nie! Mein Ahnherr Leopold würde sich im Grab umdrehen, wenn er mich hier sitzen sähe! Mit diesem … diesem … Bettler!« Geräuschvoll schob sie ihren Stuhl zurück. »Hochwürden!«, sagte sie. »Sie haben versprochen, mit mir in der Bibel zu lesen! Das Evangelium nach Matthäus. Das haben Sie doch wohl nicht vergessen?« Sie stand auf und sah Irmingast herausfordernd an.
»Aber, Baroness! Wie könnte ich das vergessen!« Eilig griff Irmingast nach der Serviette. Dann zeigte er Jonas noch einmal seine Zähne. »Bis morgen – Herr Nichts .«
Als die Tür hinter den beiden zuklappte, schob sich Jonas eine kalte Kartoffel auf die Gabel. Er hatte es überstanden.
»Sind sie weg?« Tabbi kam auf leisen Sohlen herein. Sie hatte eine Verschwörermiene aufgesetzt. »War es sehr schlimm?« Dann sah sie auf seinen Teller. »Du hast ja gar nichts gegessen!«
»Doch. Eine Kartoffel«, sagte Jonas.
Tabbi lächelte und fing an, die Teller aufzuschichten. »Die Baroness kommt abends oft gar nicht zu Tisch«, sagte sie. »Und manchmal könntest du früh zu Bett gehen und vorher essen. Bei mir in der Küche.« Sie zwinkerte ihm zu.
Jonas lächelte dankbar zurück.
Tabbi rasselte mit dem schmutzigen Besteck. »Magst du noch einen Nachtisch?« Sie langte nach der Schüssel mit den Kartoffeln. »Pass auf!«, sagte sie mit heller Stimme. »Wenn du deinen Nachtisch isst, dann zeige ich dir etwas. Einverstanden?«
»Ja«, sagte Jonas, eigentlich nur, um Tabbi nicht zu enttäuschen. Dann aß er den süßen, tröstlichen Pudding Löffel für Löffel, bis Tabbi in der Küche fertig war. Mit einer angenehmen Schwere folgte er der Köchin schließlich durch die dunkle Halle. Hoch oben unter der Decke spiegelte sich der Kerzenschein schwach in den Kristalltropfen des sonst unsichtbaren Leuchters.
»Wo gehen wir hin?«, flüsterte Jonas.
Tabbi lächelte verschmitzt. »Ich möchte dir etwas zeigen. Kannst du dir vorstellen, dass hier einmal Kinder gespielt haben?« Sie deutete die große, dunkle Treppe hinauf, als könnte in diesem Moment ein Schwarm Kinder über die Stufen in die Halle flattern.
Jonas schüttelte den Kopf. Gern hätte er Tabbi erklärt, dass er sich spielende Kinder überhaupt nur schwer vorstellen konnte. Er hatte so selten welche gesehen. Bei Brand hatte es schließlich keine gegeben – außer ihm.
Tabbi stieß die Tür zu dem Flügel auf, in dem auch die Bibliothek lag. Aus einer nur angelehnten Tür gleich zu ihrer Rechten schwappte Licht.
»Psst!« Tabbi legte den Finger an den Mund.
Auf Zehenspitzen passierten sie die Tür. Jonas hörte Irmingasts kräftige Stimme. Unwillkürlich blieb er stehen, obwohl Tabbi ihn gleich am Ärmel zupfte. In einem seltsamen Singsang trug der Pfarrer etwas vor.
» Da sie aber hinweggezogen waren, siehe, da erschien der Engel des Herrn und sprach: Stehe auf, und nimm das Kindlein zu dir, und fliehe ins Ägyptenland, und bleibe allda, bis ich dir sage; denn es ist vorhanden, dass Herodes das Kind suche, dasselbe umzubringen. «
»Jetzt komm schon!« Mit einem kräftigen Ruck zog Tabbi Jonas vom Fleck und ließ ihn den Rest ihres Weges nicht mehr los.
»Da ist Almas Kapelle«, raunte sie, als sie Jonas’ fragenden Blick zurück bemerkte. »Bibelstunde.«
Schließlich blieb sie vor der Flügeltür der Bibliothek stehen. Was konnte sie Jonas hier zeigen wollen?
Tabbi öffnete die Tür nur einen Spalt, die Bücher schluckten den Kerzenschein wie ein Wald das Sonnenlicht. Jonas hatte gleich das Gefühl, als schliefe jemand in diesem Raum. Die große Uhr tickte mit der Strenge eines Wachsoldaten.
Tabbi fasste Jonas’ Hand und zog ihn weiter. Das Licht fiel auf die schlafenden Bücher, ohne ihre Träume zu stören. Sehr schwach spiegelte es sich im schwarzen Holz, als sie am Tisch vorbeihuschten. Jonas hatte es während der Testamentseröffnung nicht bemerkt, aber hinter dem schweren Regal, vor dem der Tisch stand, setzte sich die Bibliothek noch fort. Noch mehr Regale rahmten dort ein nachtschwarzes Fenster ein, und dem Fenster gegenüber hingen zwei Gemälde an der Wand, gleich groß und in den gleichen vergoldeten Rahmen. Vor ihnen blieb Tabbi stehen.
»Schau!«, sagte sie. »Da sind die Kinder, die hier einmal gespielt haben.«
Jedes der Bilder zeigte ein Mädchen.
Jonas trat einen Schritt näher, es fiel ihm schwer genug. Etwas
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