Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts
Schnee begraben, eingefroren und unsichtbar, wenigstens bis es wieder tauen würde.
»Ja«, sagte Tabbi. »Es hat so lange nicht mehr geschneit. Jeden Sommer vergesse ich, wie das ist. Und wenn erst der Herbst kommt, kann ich es mir nicht mehr vorstellen.« Dann gefror ihr Lächeln. »Nur dumm, dass es ausgerechnet heute sein muss.« Sie fasste Jonas ein wenig fester. »Ruben wird in der Stadt bleiben müssen, bis die Wege besser sind.«
»Oh.« Daran hatte Jonas nicht gedacht. »Er fährt bestimmt trotzdem los«, sagte er leise.
Tabbi wiegte ihren großen Kopf. »Vielleicht. Aber dann wird er ewig brauchen, Junge. Besser, du wartest nicht auf ihn. Hm?«
Jonas kniff die Lippen zusammen.
»Tut mir leid«, sagte Tabbi. »Aber du könntest mir helfen, weißt du? Jemand muss Schnee schieben, wo Ruben nicht da ist. Würdest du das tun? Nach dem Frühstück?«
Frühstück? Besorgt sah Jonas an Tabbi hoch. Das Abendessen gestern saß ihm noch in den Knochen.
»Oh! Keine Sorge!« Tabbi knuffte ihn. »Von Hochwürden und der Baroness ist weit und breit nichts zu sehen! Du kannst bei mir in der Küche essen.«
Bald darauf stand Jonas im Innenhof von Wunderlich. Er trug die gute Mütze, seine alte Joppe, und Tabbi hatte ihm einen dicken Wollschal umgebunden. Die Handschuhe gehörten Ruben und waren ihm zu groß. Beim Schneeschippen würden sie eher hinderlich sein.
Jonas atmete tief ein und sog die feuchte, kalte Luft durch die Nase. Wunderlichs Innenhof kam ihm vor wie eine Schachtel, die der Schnee, würde er nur lange genug fallen, füllen würde bis zum Rand. Alle vier Flügel des Herrenhauses waren gleich lang, und von jedem führte eine Doppeltür direkt auf den Hof. Genau in der Mitte des Hofs stand der Turm. Er war hoch und dünn und rund, und seine Steine schienen älter als alles andere hier zu sein. Sie waren verwittert, geplatzt und schlecht verfugt und einige der Zinnen hoch oben waren abgebrochen. Ein paar wenige Steinstufen führten zu einer verzogenen, rissigen Tür, ein Geländer gab es nicht. Die wenigen Fenster des Turms waren mit Blendläden verschlossen. Regen, Wind und Frost hatten den Anstrich der Läden schon abplatzen lassen, bis nur noch das bleiche, morsche Holz übrig war.
Der Schnee reichte Jonas mittlerweile bis zu den Knöcheln, und er wollte bereits einen Weg zum Turm frei schaufeln, so wie Tabbi es ihm aufgetragen hatte, als ihm die Spuren auffielen. Schon war der neue Schnee dabei, sie wieder verschwinden zu lassen, aber noch waren sie deutlich zu sehen. Eine Spur führte vom rechten Flügel des Hauses zum Turm, die andere kam von links. Unwillkürlich sah Jonas sich um, aber im Innenhof regte sich nichts.
Er lehnte die Schaufel an die Wand, stopfte die Handschuhe in die Taschen seiner Joppe und stapfte auf den Turm zu. An der Bruchsteintreppe trafen sich die Spuren. Eine stammte von großen Schuhen, die andere von etwas kleineren. Beide Spuren endeten vor der Tür des Turms und keine führte zurück.
Jonas überlegte. Tabbi war hinter ihm in der Küche mit ihrer Arbeit beschäftigt, also konnten nur Irmingast und Alma die Spuren hinterlassen haben – Irmingast die großen, Alma die kleineren. Aber was taten die beiden im Turm?
Jonas legte den Kopf in den Nacken und sah zu den Zinnen hinauf. Schneeflocken fielen in sein Gesicht und perlten als kaltes Wasser über seine Wangen. Und wenn dort oben im Turm das Spielzimmer war? Wenn Alma dort verschwand, stundenlang, jeden Tag?
Jonas hatte keinen Beweis und war sich doch sicher. Ohne groß zu überlegen, setzte er einen Fuß auf die erste Treppenstufe, gleich neben die beiden ineinander verschwimmenden Spuren. Dann stieg er noch eine Stufe höher und noch eine und noch eine, bis er schließlich vor der Tür stand.
Etwas zerrte an ihm. Er durfte nicht ins Spielzimmer, Clara hatte es in ihrem Testament verboten, aber wenn er darüber nachdachte, war ihm das egal. Was konnte ihm schon passieren? Sollten sie ihn doch von Wunderlich fortschicken! Es wäre ihm ganz recht. Er legte eine Hand auf den Türknauf. Das Metall war eisekalt. Eine ganze Weile blieb er so stehen.
Warum führten zwei Spuren zum Turm?
Warum zog ihn der Turm so unwiderstehlich an?
Aber er musste vernünftig sein. Irgendwo hinter der Tür warteten Alma und Irmingast. Er wäre verrückt, wenn er hineinginge.
Jonas ließ den Knauf wieder los, lief die Treppe hinab und folgte Almas Spuren über den Hof. Die Spuren zum Turm hielten schließlich noch eine andere
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