Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts
einen Absatz in die Schneedecke über dem gefrorenen Teich, hörte das Eis knacken und stellte sich vor, wie der Riss unter dem Schnee wanderte. Irgendwann würden sie alle einbrechen. Die Geheimnisse hielten nicht stand. Tabbi war schon jetzt nur noch ein Schatten ihrer selbst. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und war fahrig und schreckhaft. Außerdem hätte Jonas geschworen, dass sie mit Ruben gestritten hatte. Wenn Ruben nicht wäre und wie ein Schießhund auf ihn aufpasste, er wurde schnurstracks in den Turm gehen und das Spielzimmer suchen. Irmingast hin, Alma her.
Oder hatte etwa Alma sich an dem Leuchter zu schaffen gemacht? Alma könnte dir nach dem Leben trachten , hatte Peregrin Aber gesagt.
Jonas blinzelte über die Schneedecke und versuchte sich vorzustellen, wie Alma bei Morgengrauen in die Halle schlich, den Leuchter herunterkurbelte und dann mit einem Messer die Seile anritzte. Die alte, feiste Alma mit ihren steifen Röcken? Nein – dann schon eher Irmingast mit seinen langen Fingern.
Aber Alma und Irmingast machten gemeinsame Sache und Claras Testament schützte Jonas vor beiden. Alma würde schließlich ihr Wohnrecht verlieren, wenn ihm etwas zustieße, und dann müsste auch Irmingast seine Koffer packen. Außer Alma wollte ja wohl niemand, dass der Pfarrer blieb. Und das galt selbst dann, wenn jemand anders Jagd auf Jonas machte. Jemand anders … Aber wer?
Überhaupt – was, wenn Alma und Irmingast oder ein unsichtbarer Dritter es auf alle abgesehen hätten und nicht nur auf ihn? Wenn sie einfach jeden aus dem Weg räumen wollten, ihn und Tabbi und Ruben? Vielleicht war es ja gar kein Zufall gewesen, dass Tabbi unter dem Leuchter gestanden hatte, als er fiel.
Jonas sah zum Haus hinüber. Sie hätten Tabbi nicht alleine lassen sollen.
»Wollen wir gehen?«
Ruben war in Gedanken, er kam von weit her. Fast überrascht sah er Jonas an, dann nickte er.
Langsam trotteten sie zurück, jeder für sich, bis Ruben sich hinkniete und Jonas an den Schultern fasste. Auf einmal war Rubens Gesicht ganz nah. Jonas sah die haarfeinen Fältchen um seine Augen, dann starrte er auf Rubens Mund, um die Lippen zu lesen.
»Was?«, sagte er schließlich und gab mit einem Lächeln auf.
Aber Ruben lächelte nicht mit. Stattdessen formte er dieselben Worte noch einmal.
Jonas’ Lippen, seine Zunge vollzogen jede dieser Bewegungen nach, zunächst stumm, dann unter Einsatz der Stimme.
»Es tut mir leid«, sagte Jonas schließlich an Rubens statt.
Ruben nickte. Er sah traurig aus.
»Was tut dir leid?« Jonas verbesserte sich. »Tut es dir leid, dass du mir nichts verraten kannst?«
Aber Ruben kam nicht mehr dazu, zu antworten. Es knallte, entsetzlich laut. Kaum einen Meter vor ihnen stob Schnee auf. Rubens Augen waren plötzlich riesengroß, er riss den Kopf zur Seite und starrte auf den Südflügel.
Plötzlich wich alles Blut aus Jonas’ Gliedern. Sie wurden beschossen!
Irgendwo da im Südflügel hatte jemand ein Gewehr!
Noch ein Knall, Schnee spritzte, aber da hatte Ruben Jonas schon gepackt und rannte auf Wunderlich zu. Halb trug er Jonas, halb schleifte er ihn. Jonas sah Schnee, Himmel, Haus, Rubens wirbelnde Beine.
»Nein!«, rief er. Sie rannten ja auf den Schützen zu! »Lass mich los!« Jonas strampelte, wollte sich befreien, aber Rubens Griff war eisern.
Irgendwie kam Jonas auf die Füße, rutschte, spürte kalten, nassen Schnee an den Händen und hatte dann die Tür zum Südflügel erreicht. Er begriff. Ruben hatte den Angriff unterlaufen! Der Schütze musste irgendwo über ihnen sein, im ersten Stock, und Ruben hatte die einzige Deckung gesucht, die es weit und breit gab. Das Herrenhaus.
Jonas hastete über die Schwelle. Keuchend drückte er sich neben Ruben an die Wand. Es war kein weiterer Schuss gefallen. Für den Augenblick waren sie in Sicherheit.
Rubens Blick wanderte den Korridor entlang. Dann griff er Jonas’ Hand und zog ihn fort. Sie rannten den Gang entlang, bis Ruben eine Tür aufriss, dann stürmten sie durch eine Zimmerflucht. Ihre Schritte hallten, Jonas war atemlos vor Angst. Wo sollten sie hin? Hatte Ruben denn kein Gewehr? Rannten sie, um eines zu holen?
Sie hatten den nächsten Korridor erreicht. Für einen Augenblick blieb Ruben stehen, warf den Kopf hin und her, lauschte.
Schritte, da waren Schritte hinter ihnen!
Ruben zog so heftig an seinem Arm, dass Jonas beinahe gestürzt wäre. Alles in ihm war jetzt in Aufruhr, seine Augen füllten sich mit Tränen. Blind
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