Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts
Der Wind kämmte die Grashalme, bunte Schmetterlinge taumelten umher, Jonas konnte schier unendlich weit sehen. Er hörte Vögel singen.
Tirili.
Tirili.
Tirili.
Im ersten Augenblick glaubte er, vor einer geheimen Tür nach draußen zu stehen. Aber … draußen lag doch Schnee!
Dann fiel unten der nächste Schuss.
Ruben! Jonas’ Augen füllten sich wieder mit Tränen, und die Wiese, diese irre Wiese verschwamm in bunten Schlieren.
Geh in den Schrank!
Jonas hob einen Fuß und setzte ihn wie auf eine Treppenstufe. Unter seiner Sohle spürte er weiche Erde. Der Wind stieg ihm in die Nase. Jonas roch das Gras.
Das 12. Kapitel
verhilft Jonas zu einer neuen Bekanntschaft
Jonas rannte. Er rannte über das unwirklich satte, grüne Gras und die sanft geschwungenen Hügel, er rannte so schnell, dass die Schmetterlinge in der Luft zu stehen schienen wie winzige Wimpel im Wind. Jonas rannte so lange, bis es ihm die Brust zuschnürte und er vor Anstrengung husten musste. Dann stützte er die Hände auf die Knie, keuchte und staunte.
Er war in einem Schrank.
Er war in keinem Schrank – es konnte nicht sein.
Als er den Schuss gehört hatte, unten im Hof, war er auf die Wiese getreten und gleich losgelaufen. Ein einziges Mal nur hatte er sich noch umgesehen, aber nicht glauben können, was es da zu sehen gab. Die Graslandschaft, ein blauer, wie gemalter Himmel mit Schäfchenwolken und in der Luft eine Tür. Selbst wenn man wusste, dass sich hinter dieser Tür ein dunkles Turmzimmer verbarg, in dem der Putz von den Wänden bröckelte und vergessene Bastelbögen verblichen, konnte man es nicht glauben.
Langsam beruhigte sich sein Atem. Jonas richtete sich auf, nahm die Mütze ab und wischte sich die Stirn. Es war sommerlich warm, er schwitzte. Wie lange war er gelaufen? Wie weit war er gekommen? Und wo würde Ruben ihn suchen?
Ich finde dich .
Und wenn es gar nicht Ruben wäre, der ihn suchen käme?
Ich halte ihn auf .
Ihn.
Ihn?
Wen? Wer hatte geschossen?
Zum zweiten Mal sah Jonas zurück, aber die Tür in der Luft war aus seinem Blickfeld verschwunden. Hinter ihm lag nur das Meer aus Gras, über das er gekommen war. Und vor ihm, am Horizont, drängten sich Bäume aneinander, als teilten sie dort drüben raschelnd und flüsternd ein Geheimnis.
Ein Wald. Dort würde er sich verstecken können und warten. Wenn alles gut ging, dann auf Ruben. Und wenn nicht, dann …
Jonas stopfte die gute Mütze in die Tasche, zog die Joppe aus und hängte sie sich über die Schulter. Dann hielt er auf die Baumgruppe zu. Ganz so, als sei es das Normalste von der Welt, dass kilometertief in einem Schrank Bäume bis in den Himmel wuchsen.
Als er den Wald erreichte, verwandelte sich der frühe in einen späten Abend. Rote Schlieren säumten den Himmel, und die Sonne tauchte ab, um eine andere Welt zu bescheinen. Unglaublich, dass über Wunderlich schon die Winternacht hereingebrochen sein musste und der Frost den Schnee auf den Ästen der Weide über Claras Grab vereiste. Und doch musste es so sein.
Jonas sah ins Geäst hinauf, folgte dem nächsten Tirili mit den Augen und erhaschte einen Flecken Gelb, bevor der kleine Vogel im dichten Laubwerk verschwand. Dann schreckte ihn ein durchdringender Schrei auf, ein volltönendes Miau wie das einer mächtigen Katze. Es war ganz nah, gleich in seinem Rücken. Jonas fuhr herum, aber es war keine Katze, sondern ein schillernd blauer Pfau. Missmutig hockte der große Vogel auf einem kräftigen Ast. Wie ein Bündel Reisig hing sein eingefaltetes Rad herab. Aus kleinen, schwarzen Augen stierte der Pfau ihn an.
Jonas wich zurück, Schritt für Schritt, den Pfau im Blick, bis er rücklings gegen einen Baumstamm prallte. Das machte ein Geräusch, als würde Papier reißen. Der Pfau miaute wieder. Jonas wandte sich um. In den Baum, gegen den er gestoßen war, war ein Stück weit über Jonas’ Kopf ein Nagel geschlagen und darunter klemmte ein Fetzen Papier. Das abgerissene Plakat war auf den Boden gefallen. Jonas warf noch einen prüfenden Blick zu dem Pfau hinüber, dann bückte er sich und hob es auf. Das Plakat zeigte das Porträt eines bärtigen Mannes mit Augen so groß wie Untertassen und einer Nase, die fast so lang und dünn und krumm war wie ein Zweig. TOT ODER LEBENDIG , stand in großen Lettern über dem Bild, darunter wurde die Schrift kleiner. Der Pfau schien das Interesse verloren zu haben und stierte jetzt ins Leere. Jonas las.
Krempel, Wicht
Der Gesuchte ist drei Fuß
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