Die Unzertrennlichen
lag. Eine schmale, gepflegte, wohlgeformte Hand mit sorgfältig manikürten Fingernägeln. Dass eine solche Hand brutal zuschlug, war schwer vorstellbar.
»Weshalb sagst du nichts?«, fragte Stefan, neigte sich über den Tisch und küsste mich auf die Wange. »Du bist wortkarg heute.«
»Ich bin müde«, log ich. »Die letzten Tage waren ziemlich anstrengend. Es gab viel zu tun vor den Feiertagen.«
In diesem Augenblick wurde heftig an der Haustür geklopft. Stefan nahm die Serviette von seinem Schoß, legte sie neben seinen Teller, stand auf und ging in den Flur hinaus. Ich folgte ihm, blieb auf der Schwelle der Stubentür stehen und lehnte mich mit verschränkten Armen gegen den Türstock.
»Wer kann das sein?«, meinte er. »Ich erwarte niemanden. Außerdem bin ich im Urlaub. Hoffentlich ist es kein Notfall. Falls ein Kind erkrankt ist und man mich braucht, mache ich natürlich einen Hausbesuch. Das kann ich nicht ablehnen.«
Es war kein Krankheitsfall, der dringend Stefans Anwesenheit erfordert hätte, es war Hochwürden Wojcik, der frierend und fassungslos vor der Tür stand. Er hatte sich eine lange, dicke braune Wollweste übergeworfen, darunter trug er die Soutane mit dem Priesterkragen, der sich gelöst hatte und dessen eines Ende auf einer Seite hinausragte. Seine hohlen Wangen bedeckte ein schwarzer Stoppelbart, er hatte dunkle Ringe unter den Augen, und sein Teint spielte ins Gelbgrünliche. Auf seinem Kopf saß eine hellblaue, handgestrickte, schneebedeckte Pudelmütze. Verstört trat er in den Flur.
»Ich bin zutiefst betroffen, Herr Doktor! Eine solche Aufregung, und das so kurz vor der Geburt unseres Erlösers!« Er blickte Stefan ratlos an. »Es ist undenkbar, aber Florian Temmel hat gestanden. Er hat zugegeben, die Person ermordet zu haben, die man tot im Weiher aufgefunden hat. Sie bringen ihn gerade nach Graz. Angeblich ohne seinen Bruder. Das können sie nicht machen, er kann sich kaum ausdrücken! Felix muss doch seines Bruders Hüter sein! Man kann Florian nicht aus seiner Umgebung herausreißen, das verkraftet er nicht.«
»Beruhigen Sie sich, Hochwürden«, sagte Stefan. »Man wird jemanden finden, der sich mit ihm verständigen kann. Kommen Sie in die Stube, setzen Sie sich und trinken Sie ein Glas Wein mit uns!«
»Nein, nein! Ich gehe gleich wieder. Wir dürfen keine Zeit verlieren, wir müssen Florian helfen. Ein solches Geständnis kann doch nicht ernst genommen werden, der junge Mann ist geistig nicht zurechnungsfähig. Bestimmt hat man ihn eingeschüchtert. Und wie kommt die Polizei überhaupt auf die Idee, dass dieser erbarmungswürdige Mensch jemanden töten könnte? Das ist doch widersinnig! Wie sagt unser lieber Herr Jesus? Selig sind die, die da geistig arm sind, denn das Himmelreich ist ihrer. Matthäus, Kapitel fünf, Vers drei. Wir müssen protestieren, Herr Doktor! Auch Sie! Ihr Wort hat Gewicht!«
Er hatte sich in Hitze geredet. Wenigstens noch einer, der den Schwachsinnigen für unschuldig hielt.
»Ich fürchte, wir können nichts tun«, sagte Stefan ruhig. Sehr ruhig. »Die Ermittlungen der Polizei dürfen nicht gestört werden. Lassen Sie die Beamten arbeiten, Hochwürden. Ich bin sicher, es geht alles seinen korrekten Weg.«
»Wie können Sie so gelassen sein? Das Kind ist frei von Schuld!« Der Pfarrer blickte zur gewölbten Decke auf und bekreuzigte sich. »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Lukas 23, Vers 34. Kommen Sie, kommen Sie mit, Herr Doktor!«
»Bitte verzeihen Sie, aber ich bleibe hier«, sagte Stefan kühl. »Ich bin, so wie die meisten im Dorf, nicht von Florians Harmlosigkeit überzeugt.«
»Enttäuschen Sie mich nicht, Herr Doktor! Wir müssen uns hinter das bemitleidenswerte Lamm Gottes stellen. Gerechtigkeit erhöhet ein Volk.«
»Nein«, sagte Stefan. »Es tut mir leid. Wir sollten Vertrauen in die Justiz haben.«
Der Pfarrer maß Stefan mit einem hilflosen, verwirrten Blick. Dann wandte er sich jählings um und verließ das Haus. Wir sahen ihn von hinten, sahen, wie er davoneilte, wie er eine zur Faust geballte Hand zum Himmel erhob und schüttelte. Sein Priesterrock flatterte im Schneetreiben.
»Denn Gott wird alle Werke vor Gericht bringen, alles, was verborgen ist, es sei gut oder böse!«, hörten wir ihn rufen, als er seinen Wagen bestieg. Und dann, leiser: »Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht … Fürchtet euch nicht …«
Ich schaute Stefan direkt ins Gesicht. Er wandte den Blick
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