Die Unzertrennlichen
ab.
Später fuhr ich kurz zu den Großeltern. Der übliche Pflichtbesuch. Es schneite nur noch leicht. Meine Großmutter war allein zu Hause. Der Großvater war bei einem Treffen des Kameradschaftsbundes im Wirtshaus. Die Nachricht von Florians Geständnis hatte sich schon herumgesprochen. Nicht einmal die Exekutive vermochte in diesem Dorf etwas geheim zu halten. Die Großmutter schien jedenfalls nicht unzufrieden mit dem Fortgang der Ereignisse.
»Meine Ahnungen haben mich nicht getrogen«, frohlockte sie mit Grabesstimme, was bei ihr nicht notwendigerweise ein Gegensatz war. »Fluch und Segen zugleich, so ein sechster Sinn. Eine furchtbare Geschichte. Aber es hat sich abgezeichnet. Seit langem. Wir Frauen aus dem Dorf sind jedenfalls sehr erleichtert, wie du dir vorstellen kannst.«
Ich enthielt mich einer Äußerung.
»Weshalb sagst du nichts?«, fragte sie gereizt. »Du wirst doch nicht für dieses geisteskranke Individuum Partei ergreifen wollen?«
Dass ich weiterhin auf jeden Kommentar verzichtete, erboste sie noch mehr. »Wozu habe ich dich eigentlich gebeten, der Sache nachzugehen? Nichts hast du herausgefunden, die Behörden, dumm, wie sie sind, waren schneller als du.« Sie seufzte. »Du magst eine gute Ärztin sein, Sissi. Was nicht verbürgt ist. Alles in allem bist du jedenfalls zu nicht viel nütze. So wie deine Mutter, das muss leider gesagt sein.«
Darauf verfiel sie übergangslos in Klagen über meine angebliche Missachtung der väterlichen Hinterlassenschaft. »Deine Tanten haben den Kaminofen in der Mühle eingeheizt, damit du es bei deiner Ankunft warm hast«, sagte sie vorwurfsvoll. »Wenn Beate nicht zufällig beim Konsum unseren Herrn Doktor König getroffen hätte, wüssten wir überhaupt nicht, dass du Weihnachten hier verbringst. Na ja, offenbar war die Arbeit dieser braven Frauen umsonst. Wie ich dich kenne, wirst du bei ihm im Winzerhaus auf dem Hügel logieren.«
Auf all diese Beanstandungen hin wagte ich es nicht, zu Stefan zurückzufahren, ohne mich zuerst zur Mühle zu begeben.
Während ich den Bach entlangging, immer tiefer in den Graben hinein, hörte es allmählich ganz auf zu schneien. Als ich um die Ecke des Gebäudes bog, schreckte ich zurück. Der Forstgehilfe saß, den speckigen kleinen Lodenhut auf dem Kopf, die dicke, kaputte, notdürftig mit einem rosa Heftpflaster reparierte Brille vor den Augen, die Hände in den Hosentaschen seiner zu dünnen Jacke, eine unangezündete Zigarette im Mund, zitternd vor Kälte auf dem Hackstock. Auf seinem Schoß lag die Axt, die normalerweise in diesem steckte. Es sah aus, als habe er auf mich gewartet. Er stand auf, trieb das Beil mit einem gezielten Hieb in den Stock, nahm die Zigarette aus dem Mund, schob sie in die Brusttasche seiner Jacke und streckte mir die Rechte entgegen. Eigenartig, das Gefühl, eine Hand mit einem fehlenden Zeigefinger zu drücken.
»Ich muss mit dir reden«, sagte er.
Ich fühlte mich überrumpelt.
»Na gut, komm herein«, sagte ich schließlich und sperrte die Tür auf. Ich hatte es aufgegeben, ihn beharrlich in der Höflichkeitsform anzusprechen, es war zu mühsam. Wir traten ein. Es war angenehm warm im Raum. Ohne von mir aufgefordert zu werden, ließ Florians großer Bruder sich in den alten Lehnstuhl fallen und sackte darin zusammen.
»Ich habe deinen Vater hier oft besucht«, sagte er. »Wir haben uns gern miteinander unterhalten. Er wusste viel. Über alles Mögliche.«
Ich zog einen Stuhl heran und setzte mich zu ihm.
»Worum geht es?«
Er blickte zu Boden. Niedergedrückt. Mutlos.
»Es ist nicht so einfach«, sagte er dann und holte tief Luft, bevor er weitersprach. »Es ist wegen der Leiche, die man im Fuchsweiher gefunden hat. Sie haben Florian verhaftet. Und er hat zugegeben, dass er diese Leiche – ich meine, diesen Toten – also, diese Person umgebracht hat. Vielleicht vermuten sie, dass es die alte Baumgartnerin ist? Die Vermisste?« Er schaute mich verzweifelt an. Ich klärte ihn nicht auf. »Aber er weiß doch gar nicht, worum es geht!«, rief er dann. »Sie haben ihn so lange verhört, er war schon ganz verwirrt. Ganz durcheinander. Er kann sich nicht verteidigen. Im Gegenteil, mit seinem ganzen Gehaben schadet er sich noch, obwohl er mit der Sache nichts zu tun hat. Das kommt daher, dass er sein Leben lang angeschwärzt und verleumdet worden ist. Immer war er der Schuldige, der Sündenbock für alles. Nur weil er krank ist. Weil er sich nicht zur Wehr setzen kann. Das geht
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